Segler
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Die zwei Seiten der Einsamkeit

Vollmond auf See

YouTube ist voller Segler-Videos. Meist sind es Paare, die von ihrer Segelreise berichten, mit mehr oder minder technischem Aufwand und filmischer Raffinesse. Sie erzählen von ihrem Alltag an Bord, Reparaturen, Ausstattungen, von längeren oder kürzeren Törns, von Wind, Wellen und schlaflosen Nächten. Selten aber erzählen sie davon, was die Reise ihnen eigentlich bedeutet und was die Zeit auf See mit ihnen macht. Deshalb sind die Videos oft auch austauschbar und, wenn nicht ein Problem besprochen wird, das mich als Segler ebenfalls beschäftigt, wenig relevant.

Beeindruckende Filmdokumentation

Kürzlich habe ich jedoch ein Video gesehen, das mich wirklich bewegt hat. Der Film handelt von der schwedischen Soloseglerin Emma Ringqvist. Realisiert hat ihn der Filmemacher Mattias Olsson mit Material von der Seglerin selbst und zusätzlichen Bildern. Er trägt den Titel «The Art of Slowing Down Time».

Die halbstündige Dokumentation folgt der Seglerin von ihrer Heimat nonstop nach Brasilien und anschliessend via Tristan da Cunha, der abgelegensten Insel im Atlantik, zurück nach Schweden. 164 Tage ist sie unterwegs. Schon allein die Strecke ist beeindruckend, eine Reise rund um den Atlantik. Zweimal passiert sie den Äquator. Und weil auf der Rückreise der Motor versagt, hängt sie tagelang im Kalmengürtel fest.

Das wirklich Beeindruckende ist jedoch, was im Kopf und im Herzen der Seglerin geschieht. Je länger die Reise dauert, schwankt ihre Stimmung zwischen Euphorie und Verzweiflung. Auch ein Mensch, der gerne allein ist, vermisst irgendwann andere, und so weckt die Vorstellung, wie es sein könnte, mit jemandem über einem Kaffee zu plaudern, eine unglaubliche Sehnsucht in ihr.

Jubel und Tränen am Äquator

Eine der berührendsten Szenen zeigt Emma Ringqvist vor dem GPS-Gerät. Noch fehlen wenige Bogensekunden bis zur zweiten Überquerung des Äquators. Als die Breitengrad-Anzeige auf 0 fällt, bricht sie in Jubel aus und gleich darauf in Tränen. In diesem Moment ist alles enthalten, Freude, Stolz, Trauer: die zwei Seiten der Einsamkeit, das Schwarz und Weiss der Seele und all der Grautöne dazwischen, wie es in dem Gedicht von Stephen Jenkinson heisst, das dem Film zugrunde liegt.

Der erste von Emma gesprochene Satz erinnert auch an den französischen Segler Bernard Moitessier, der 1968 das erste Solorennen um die Welt verliess, nicht, um an Land zurückzukehren. Im Gegenteil, um der sogenannten Zivilisation mit ihrem Trubel zu entkommen. Das ist auch Emmas Motiv, um aufzubrechen und allein zu segeln, und um die Einsamkeit zu erkunden. Am Ende kehrt sie zurück zu ihrer Familie, zu einer Beziehung und zu einem neuen Leben.

Ich bin längst nicht so weit gesegelt wie Emma Ringqvist. Aber die Tage, die ich allein auf See verbracht habe, haben mir wahrscheinlich mehr über mich und die Welt begreiflich gemacht als mein Leben an Land und im Trubel des Alltags. Und wenn ich mit anderen Soloseglern spreche, so empfinden sie ähnlich. Wie Emma habe ich mich manchmal auch gefragt, was ich eigentlich da draussen mache. Die Antwort könnte lauten: Eine lange und manchmal sehr unbequeme Meditation.

Kategorie: Segler

von

Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

2 Kommentare

  1. Ich habe dieses Video gestern per Zufall auch gesehen. Beindrucken, auch wie sie mit dem Motorausfall die Ruhe bewarte, auch wenn manchmal ein paar Tränen zum Voschein kamen. Aber das ist nicht nur mental, auch seemännisch (-frauisch) eine ausserordentliche Leistung. Inspirierend auf jeden Fall.
    Am 26. Juni 22, sofern meine noch notwendige Leistenbruch-Operation gut verläuft gehts ab zu den Azoren. Darauf freue ich mich ungemein.
    Freundschaftlichen Gruss, noch aus Holland.
    Thomas

    • Lieber Thomas, dann werden wir uns hoffentlich hier sehen. Ich werde am 20. Mai zwar noch runter nach Madeira segeln. Sollte aber bis dann zurück sein. Hoffe, die Operation verläuft gut. Herzlich, Rony

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