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Azorianische Fehlerkultur – oder die Frage, wann ich eigentlich geboren wurde

Rony und Pass

Wie lange bin ich nun schon auf den Azoren? Über ein Jahr – mit einem Unterbruch für einen Schweizaufenthalt natürlich. Ich hatte in dieser Zeit ausreichend Gelegenheit, mich mit Besonderheiten der azorianischen Mentalität anzufreunden, zwangsweise sozusagen. Zu diesen Besonderheiten zählt, wenn man so will, eine besondere Art der Fehlerkultur. Ihren Niederschlag findet diese Kultur auch in offiziellen Dokumenten, solchen dummerweise, die einem das Leben entweder sehr erleichtern oder sehr erschweren können.

Zum Beispiel im europäischen Covid-Zertifikat portugiesischer Provenienz. Ich habe mich schon vor geraumer Zeit auf Santa Maria impfen lassen. Dass dies möglich war, ist grossartig und beweist eine Grosszügigkeit – oder behördliche Vernunft, je nachdem wie man es sieht –, die man sich anderswo nur wünschen würde.

Mit mehreren Dutzend Einheimischen und einer Handvoll anderer Segler habe ich an zwei Terminen in der grossen Feuerwehrstation von Vila do Porto meine Dosen Pfizer-Biontech erhalten. Auf einem kleinen Kartonkärtchen, das ich seither wie meinen Augapfel hüte, wurden sie eingetragen. So ein Kärtchen taugt aber nicht als internationales Dokument; als Voraussetzung also, irgendwohin reisen zu können. Nicht mal zwischen den Azoren-Inseln lässt es sich verwenden.

Impfkärtchen

Wo alles begann

Als registrierter Zweitniedergelassener habe ich allerdings auch das Recht auf ein europäisches Covid-Zertifikat. Damit man ein solches bekommt, muss man ins nationale Gesundheitsregister eingetragen werden und eine besondere Nummer, die Numero de Utente, erhalten. Ich sprach deshalb bei Senhor Sergio im Centro de Saude, der kleinen Krankenstation auf Santa Maria, vor und unterbreitete ihm mein Anliegen. Da ich über die nötigen Unterlagen und Voraussetzungen verfügte, schien alles kein Problem zu sein. So versicherte mir auf jeden Fall der für Administratives zuständige Senhor Sergio durch die Plexiglasscheibe seines Schalters hindurch.

Er schnappte sich alle Dokumente und begann, mit harten Anschlägen alles in seinen Computer einzutippen. Ich vermute, just in diesem Augenblick unterlief ihm, der mit seiner dünnrandigen Brille und dem konzentrierten Blick doch so einen vertrauenswürdigen Eindruck auf mich machte, jener fatale Fehler, für den ich anschliessend büssen sollte.

Aber in diesem Moment schien der Pfad zum europäischen Covid-Zetrifikat leicht und hindernisfrei vor mir zu liegen. Ich sollte einfach in einer Woche wiederkommen, beschied mir Senhor Sergio und entliess mich mit einem freundlichen «boa Tarde».

Drei Wochen später

Als ich nach drei Wochen wieder im Centro Saude erschien – ich war zwischenzeitlich nach Terceira gesegelt –, war Senhor Sergio in den Ferien. Dafür nahm sich eine freundliche, junge Dame meiner an. Und tatsächlich fand sie meine Numero de Utente in irgendeiner Datenbank auf ihrem Computer. Anderswo hätte sie vielleicht ein Dokument mit der Nummer ausgedruckt. Sie schrieb sie ganz einfach auf einen gelben Postit-Zettel und reichte mir diesen.

Sei’s drum. Kaum war ich wieder auf dem Boot, lud ich die App des portugiesischen Gesundheitsministeriums auf mein Handy, gab meine portugiesische Telefonnummer ein und die Numero de Utente und: eine Fehlermeldung erschien. Ich wiederholte den Vorgang, einmal, zweimal, dreimal. Vergebens.

Centro Saude zum zweiten

Also zurück ins Centro de Saude. Die gleiche freundliche junge Dame hörte sich mein Problem an, tippte auf ihrem Computer herum und meinte dann, es sei nun alles okay. Vorher korrigierte sie allerdings still und heimlich die Nummer auf dem Postit-Zettel. Ich müsse nur etwas warten und es dann wieder versuchen, sagte sie mit dünner Stimme.

Ich tat wie geheissen. Wartete und probierte. Mit demselben Ergebnis: Fehlermeldung.

Und wann genau bin ich geboren worden?

Ein drittes Mal besuchte ich das Centro de Saude. Diesmal war es eine ältere, etwas resolute Krankenschwester, die sich mit meinem Problem befasste. Sie schnappte sich meine Dokumente einschliesslich des Postit-Zettels und verschwand in einem Büro. Nach gut 20 Minuten kehrte sie im Stechschritt zurück. Ob ich sicher sei, dass ich am 24. Januar 1964 geboren sei, fragte sie mich und ihre dunklen Augen blickten mich an, als würde sie mit einer Lüge rechnen.

Ich bestätigte mit aller Vehemenz mein, auf dem Pass ausgewiesenes Geburtsdatum. In der portugiesischen Datenbank, welcher die Krankenschwester wohl eher vertraute als einem roten Pass mit weissem Kreuz, war jedoch der 6.6.1960 eingetragen worden. Nicht, dass es mich grundsätzlich stören würde, ein paar Jahre älter gemacht zu werden. Doch ich fand es wichtig, dass auf einem offiziellen Dokument auch die korrekten Daten stehen. Kleinlich oder nicht. Mit meinem kümmerlichen Portugiesisch, das eher spanisch klingt, versuchte ich das verständlich zu machen.

Irgendwann schien die Krankenschwester die Möglichkeit doch in Erwägung zu ziehen, dass da ein Fehler beim Eintrag in die Datenbank hätte passiert sein können. Auf jeden Fall versicherte sie, sie wolle sich darum kümmern. Sagte es und verschwand wieder. Ich rief ihr noch ein «Obrigado» hinterher. Aber das schien sie nicht mehr gehört zu haben.

Noch immer zu alt

Ob sie sich kümmerte oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall konnte ich ein paar Tage später tatsächlich die App starten, indem ich meine Numero de Utente und mein Geburtsdatum, das korrekte, in die entsprechenden Felder eintippte. Ich glaubte mich dem Ziel nah, drückte auf das Feld für das Covid-Zertifikat und wartete. Da erschien es auch schon auf dem Bildschirm, mit QR-Code und allem Dazugehörigen. Ich jubelte innerlich. Ausdauer zahlt sich eben doch aus, dachte ich. Die Enttäuschung folgte auf dem Fusse. Auf dem Zertifikat stand unter dem Geburtsdatum der 6. 6. 1960. Ich war noch immer vier Jahre zu alt.

Nun existiert auf der Insel ein Amt, das den schönen Namen «Rede Integrada de Apoio ao Cidadão» trägt, zu Deutsch «Integriertes Netzwerk zur Unterstützung der Bürger». Ich solle es doch dort versuchen, empfahl mir der französische Stegnachbar. Das tat ich. Die Dame, die in einem riesigen Büro ganz alleine an einem Schalter sass, sprach zwar nur Portugiesisch. Aber sie zweifelte keinen Augenblick an meinem tatsächlichen Geburtsdatum, als ich ihr mein Handy mit dem Covid-Zertifikat sowie meinen Pass unter die Nase hielt und auf die Differenz hinwies.

Ein letzter Anlauf

Sie runzelte die Stirn. Dann begann auch sie, ihren Computer zu bearbeiten. Sie tippte sehr viel und sehr lange. Sie habe eine E-Mail an die entsprechende Stelle geschrieben, erklärte sie mir. Es muss eine sehr ausführliche E-Mail gewesen sein. Allerdings müsse ich ein wenig Geduld haben, ermahnte sie mich – überflüssigerweise. Es könne schon einige Tage dauern, bis etwas passiere – wenn überhaupt, schob sie hinterher. Aber mehr könne sie nicht tun, sagte sie schulterzuckend. «Obrigado», sagte ich, lächelte so freundlich, wie ich konnte, und verliess das geräumige Büro mit einem Gefühl ziemlicher Ratslosigkeit.

Ich beschloss, dass ich nun keine weiteren Schritte unternehmen würde, kein Vorsprechen mehr auf irgendeinem Amt. Würde ich halt mit einem falschen Geburtsdatum auf dem Covid-Zertifikat mein Glück versuchen. Aus. Ende. Basta. Komme, was da wolle.

Vor ein paar Tagen nun lud ich das Zertifikat erneut. Und, Wunder über Wunder, das Geburtsdatum stimmt.

Leseschwäche als Inselkrankheit?

Ein Zufall? Nun ja. Eine hiesige Schneiderin, eine aufgeweckte Frau, die perfekt Englisch spricht, hat die Polster von Blue Alligators Salon neu bezogen. Sie hat grossartige Arbeit geleistet. Als ich ihr das sagte, meinte sie nicht ohne Stolz, sie sei eben Perfektionistin. Sie musste mir jedoch drei Mails schreiben, bis ich von ihr eine korrekte Kontonummer erhielt, um ihr Honorar zu überweisen.

Nein, Zufälle sind das nicht. Es kursieren unzählige Anekdoten über Fehler in allen möglichen Dokumenten, sei es das Grundbuch, die Fiskalnummer, der Niederlassungs-Nachweis, und, und, und. Entweder grassiert auf der Insel akute Leseschwäche, oder ich bin hier tatsächlich mit einer Kultur konfrontiert, die es mit Daten nicht genau nimmt. Man kann damit leben. Solange man genügend Zeit hat, sich um die Korrekturen zu kümmern.

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Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

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