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Die Umkehr – oder den Ungeduldigen bestraft die See

Umkehr nach Santa Maria

Waren es drei oder schon vier Monate, die ich im Hafen von Vila do Porto auf Santa Maria lag? Egal, auf jeden Fall war es lange genug. Zwar hatte ich beschlossen, den Sommer über auf den Azoren zu bleiben und im Herbst den Sprung in die Karibik zu wagen. Aber die Zeit wollte ich nicht auf Santa Maria absitzen. Ich wollte wieder einmal segeln und einen Hafen besuchen, den ich noch nicht kannte. Ich hatte in den letzten Wochen und Monaten eine Routine entstehen lassen, die sich zwar ganz bequem anfühlte, aber eben Routine war. Am Morgen zu wissen, was ich den lieben langen Tag so tun würde, ist definitiv nichts für mich. Schon vor einiger Zeit hatte mich die Ungeduld ergriffen. Nun wurde sie immer drängender.

Als Tourist unbrauchbar

Nicht, dass ich stets nur Neues suche. Ich mag es, wenn ich mich mit Dingen und Orten vertraut machen kann. Ich verbringe gerne Zeit an Plätzen, um sie kennenzulernen, wirklich kennenzulernen. Wie sie aussehen bei unterschiedlichem Wetter, wie sie riechen, wie die Menschen sind, was sie beschäftigt. Deshalb bin ich eigentlich ein langsam Reisender. Checklisten sind nichts für mich und ich besitze auch keine Reiseführer, die mich auf schnellstem Weg zu den Sehenswürdigkeiten lenken. Als Tourist bin ich unbrauchbar und verpasse wohl auch das eine oder andere, das man gesehen haben sollte.

Doch ich will auch nicht heimisch werden, nicht zu sehr. Ich will nicht ganz dazu gehören oder umgekehrt: Ich will nicht Teil der Orte werden, die ich besuche. So sind Reisende, sie verzichten auf Besitz, wollen aber auch nicht besessen werden. Auf Santa Maria habe ich Freundschaften geschlossen, die mir ans Herz gewachsen sind. Ich würde die Freunde nicht vergessen und vielleicht sogar später einmal wiedersehen. Aber auch sie hielten mich nicht.

Das Ziel hiess Terceira

Ich wartete also auf ein Wetterfenster. Mein Ziel war Terceira . Die Insel liegt ziemlich direkt nördlich von Santa Maria und gehört zur zentralen Gruppe der Azoreninseln. Im Herbst war ich auf São Jorge, Pico und Faial. Aber ich war nicht auf der Insel Terceira. Sie sollte es also sein.

Von Santa Maria nach Terceira sind es rund 140 Seemeilen. Das bedeutet etwa 28 Stunden auf See, ein Tag, eine Nacht und noch ein paar Stunden. Ich plante meine Abfahrt auf den 25. März. Die Wettervorhersage verhiess 10 bis 15 Knoten Wind aus Nordnordwest und Wellen von 1,5 bis 1,7 Metern von Nord. Ich glaubte, das sei machbar. Schon am Vortag bezahlte ich die Rechnung für den Liegeplatz und erhielt die Papier für die Abreise. Am Morgen des 25. fuhr ich zunächst zur Tankstelle, wo noch ein Fischerboot lag. Mit vollem Tank und viel Zuversicht lief ich um 9 Uhr 30 aus.

Vila do Porto ist gegen Norden gut geschützt. Doch sobald man die Südwestspitze gerundet hat, eine kleine, nur durch einen schmalen Kanal von Santa Maria getrennte Insel passiert hat, ist der Schutz weg. Hier trafen mich Wind und Welle ungeschützt.

Im Windschatten der Insel hatte ich Grosssegel und Genua gesetzt. Als ich um die Ecke bog, kletterte die Windanzeige auf 18 Knoten hoch. Genug, um gleich einmal zu reffen. Zunächst rollte ich die Genua ein wenig ein, dann schlug ich das erste Reff ins Gross. Mit kleineren Segelflächen lag weniger Druck auf dem Ruder und das Schiff lief aufrechter. Trotzdem wurde das Deck auf der Leeseite regelmässig überspült.

Ach, die Wellen

Aber der Wind war nicht meine grösste Sorge. Ich kannte die Wellen auf den Azoren bereits vom letzten Jahr und wusste, dass sie ungemütlich werden konnten. Aber was mir an diesem schönen Tag begegnete, hatte ich nicht erwartet. Die Wellen waren kurz und kamen wie Wände auf mich zu. Sie schleuderten das Boote in alle Richtungen und machten es fast unmöglich, einen konstanten Kurs zu halten. Unter Deck flog durcheinander, was nicht gesichert war. Der Boden war übersät mit Kleinigkeiten. Wie dumm man sein kann! Wie vergesslich! Doch wahrscheinlich hatte mich die lange Zeit im Hafen nachlässig werden lassen. Man sagt, wenn man zulange an Land ist, verliert man seine Seebeine und muss sich erst wieder an das Schaukeln gewöhnen. Ich habe wohl auch meinen See-Sinn verloren. Nun zahlte ich den Preis dafür.

Wir machten dennoch gute Fahrt. «Blue Alligator» pflügte durch die aufgebrachte See. Aber ich konnte mich nicht darüber freuen. Immer wieder schlug Gischt über die Sprayhood, wenn das Boot in eine Welle krachte. Ich machte mir auch Sorgen: Ich hatte die Verankerung des Bugbeschlags in Vila do Porto neu machen lassen, nachdem dieser seine Unterlage eingedrückt hatte. Nun lag der Beschlag auf einer dicken Nylonplatte und war neu angeschraubt worden. Aber würde das alles jetzt halten?

Das Boot ist stärker als ich

Nun, es hielt. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, welche Kräfte das Boot aushält. Es ist eindeutig stärker als ich selbst. Nach zwei Stunden und einem Blick auf einen aktualisierten Wetterbericht wurde mir klar, dass Terceira nicht zu machen wäre. Denn anders als ursprünglich vorausgesagt, würde der Wind im Laufe des nächsten Tages nicht abflauen, sondern konstant weiterwehen, nur noch etwas deutlicher auf Nord drehen. Damit hätte ich ihn genau gegenan. Zu dumm.

Ich beschloss zunächst abzufallen. Würde ich halt nach São Jorge segeln. Der neue Kurs gewährte etwas Erleichterung, die Wellen kamen nun nicht mehr frontal von vorne, sondern etwas von der Seite. Aber noch etwas hatte sich geändert. Da war noch eine andere Bewegung im Wellenmuster, manche trafen die Wellen das Schiff nun auch von einer anderen Seite: Ich befand mich mitten in einer Kreuzsee.

Der Hafen von São Jorge, Velas, liegt etwa 170 Seemeilen im Nordwesten. Ich würde also noch etwas mehr Zeit brauchen, um ihn zu erreichen. Ich stellte mir die Nacht in diesem Tumult vor. Wenn es dunkel ist und man nicht mehr sieht, woher die Wellen eigentlich kommen, wird alles noch einmal ungemütlicher. Und wollte ich wirklich nach Velas? Ich war dort im letzten Herbst. Ein schöner Ort. Aber noch verschlafener als Vila do Porto auf Santa Maria.

Ein Gedanke wie ein Flüstern

Der Gedanke kam wie ein Flüstern, ganz leise, aber deutlich: Umdrehen. Als ich ihn das erste Mal vernahm, lag ich unter Deck und versuchte mich etwas zu entspannen. Dabei wurde ich immer wieder ins Leesegel gedrückt, das ich aufgespannt hatte, um nicht von der Bank geworfen zu werden. Wirklich entspannend war das nicht.

Ich stand auf und kletterte an Deck, stellte mich hinters Steuer, klinkte den Autopiloten aus und prüfte den Ruderdruck. Das Schiff lief noch immer ganz gut. Ach was, dachte ich, das schaffen wir.

Aber der Gedanke wollte nicht verstummen. Er wurde lauter: Umdrehen. Unter Deck sah ich den Herd, wie er wie ein Pendel hin und herschwang. Ein Netz mit den Früchten, das an einer Leine über der Spühle hing, schlug beinahe gegen die Decke. Ich würde nicht kochen können. Nicht einmal Wasser aufsetzen. Dabei war es ziemlich kalt geworden. Der Frühling auf den Azoren ist so milde nicht, vor allem nicht, wenn es von Norden bläst. Ich fror.

Umdrehen. Noch einmal ging ich an Deck. Im Norden sah ich die Schatten von São Miguel. Und dahinter? War das Terceira? São Miguel mit der Hauptstadt Ponta Delgada wäre wohl erreichbar gewesen in vielleicht fünf, sechs Stunden. Aber dort hatte sich die Corona-Situation verschärft und war für mich deshalb auch kein Ziel.

Die Wende

Als würde der Gedanke mich fernsteuern, löste ich die Genuaschot im Lee, drehte das Ruder, und Blue Alligator ging durch den Wind. Vor dem Bug lag nun wieder Santa Maria. Nach drei Stunden rundete ich die vorgelagerte Insel und augenblicklich beruhigte sich die See. Die Hafenmole kam in Sicht und dahinter die Aufbauten der «Furnas», des Versorgungsschiffes, das am Morgen gekommen war. Alles was ich nun tat, war eingespielt und lief fast von alleine ab. Genua einrollen, Gross fallen lassen, Motor starten, Leinen parat legen, Fender setzen. Zwanzig Minuten später machte ich am gleichen Ponton fest, an dem ich bereits all die Monate zuvor gelegen hatte. João vom Hafenbüro kam, um mir beim Festmachen zu helfen.

Was passiert sei, wollte er wissen. Ich scherzte zunächst: «Ich habe dich vermisst», sagte ich. Er lachte. Dann erzählte ich ihm von den Wellen. Er nickte.

Kein Problem, meinte er, er würde mich einfach wieder einchecken. Später kam er mit den Schlüsseln für Dusche und WC. Ich war beinahe etwas gerührt.

Manchmal ist man zu klein für die Wildnis

Es ist nicht leicht, umzudrehen. Pläne fallen zu lassen. Ich fühlte mich zwar erleichtert, als das Boot wieder sicher am Steg lag. Aber auch etwas gedemütigt. Mein Stolz war gekrängt. Aber Stolz ist, das habe ich auch wieder zu verstehen bekommen, auf See unangebracht. Wer sich ihr aussetzt, setzt sich der Wildnis aus. Stolz ist kein Massstab für sie. Sie hat ihre eigenen. Und manchmal ist man eben zu klein für sie.

Ich hätte es wohl schaffen können, nach São Jorge, bestimmt. Aber was hätte ich gewonnen? Ich bin, wer ich bin. Manchmal vielleicht etwas feige. Auf jeden Fall kein stählerner Held, der alles erträgt. Nur ein wenig ungeduldig bin ich. Aber den Ungeduldigen bestraft die See.

Und so habe ich als Reisender wieder etwas gelernt. Über mich, meine Grenzen. Auch das gehört zum Reisen, wie ich es verstehe.

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Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

3 Kommentare

  1. Beat Wieser sagt

    Sehr schöner Text, lieber Ronnie! Vor allem gefallen hat mir der Schluss. Stolz ist kein Massstab , der in der Wildnis gilt. Nur mit Vorsicht überlebt man dort. Und es sollte ja das Ziel sein, zu überleben und nicht unterzugehen. Mit Feigheit hat das nichts zu tun, aber sehr viel mit Selbstverantwortung und Überlebenskraft.
    Weiterhin alles Gute und herzliche Grüsse
    Beat

  2. Pingback: Terceira im zweiten Anlauf – Meergeschichten

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