Martime Kurzgeschichten
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Der Bettler von Ponta Delgada

Hochhäuser von Ponta Delgada

Meinen ersten Kaffee in Ponta Delgada werde ich nie vergessen. Ich bin Anfang September zu den Azoren gesegelt. Zugegeben, etwas spät im Jahr. Aber ich habe mich hinreissen lassen von der Magie, die von den Inseln mitten im Atlantik ausgeht. Schon der Klang: Azoren. Wann immer ich den Namen ausgesprochen habe, leise wie eine Beschwörung, sah ich vulkanische Kegel vor meinem innern Auge aus einem tiefblauen Meer aufragen. In meiner Fantasie stieg schwefliger Rauch aus tiefen Schloten empor, während Wale mit kräftigen Hieben ihrer Schwanzflossen das Wasser peitschten. Die Azoren waren für mich wie jene phantastischen Welten, die einst ein Jules Vernes beschrieb mit dem Unterschied, dass ich sie auf einer Karte fand und sie ansteuern konnte. Natürlich ist die Realität profaner als die Bilder, die ich mir von den Inseln ausgemalt habe. Aber nicht alle Vulkane sind erloschen und an manchen Orten verströmen tatsächlich Gase ihren Geruch nach faulen Eiern, blubbern heisse Quellen in Becken mit giftgelben, violetten und kupferbraunen Ablagerungen. Und auch Wale gibt es. Früher wurden sie von den Azoren aus gnadenlos gejagt. Heute kutschieren die einstigen Jäger Touristenscharen in knalligen Schlauchbooten zu den Tieren hin, ebenso gnadenlos. Aber in den Häfen liegen Yachten aus allen Herren Ländern. Es ist ein grosses Stelldichein der Segler, die nicht einfach von Hafen zu Hafen springen, sondern Ozeane überwinden. Diesem Treffen wollte ich mich zugesellen, wollte einer von diesen Seglern sein.

Auch Ponta Delgada, die schmale oder feine Spitze, wie man den Namen übersetzen könnte, klang für mich nach Ferne und Abenteuer. Allerdings wirkt die Stadt auf den ersten Blick ernüchternd. Der weitläufige Hafen wird von Hochhäusern überragt, die ihre beste Zeit längst hinter sich haben. Vom Beton bröckelt der Verputz. Zudem verstellen sie den Blick auf die Altstadt. Dort, so habe ich mir sagen lassen, würde es einen schönen Platz mit einem Café geben. Dort wollte ich hin, sobald ich die Zollformalitäten erledigt hatte. Aber die Strasse hinter den Hochhäusern, die ich entlang ging, wollte zu keinem Platz führen und meine Sehnsucht nach einem guten Kaffee nach langen Tagen auf See wurde immer drängender. So entschied ich mich für die erstbeste Bar, die ihre Stühle auf das enge Trottoir gestellt hatte.

Ich hatte gerade den ersten Schluck aus Tasse genommen, als sich eine Gestalt vor mir aufstellte und auf mich einredete.

Ich bestellte an der Theke einen Espresso und etwas, das aussah wie ein Croissant. Dann setzte ich mich an einen der Tische vor dem Eingang. Ich hatte gerade den ersten Schluck aus Tasse genommen, als sich eine Gestalt vor mir aufstellte und auf mich einredete. Der Mann trug Kleider, die etwas zu gross für seinen dünnen Körper waren: braune Cordhosen, ein kariertes Hemd mit offenen Manschetten, ein braune Stoffweste darüber. Alles viel zu warm eigentlich für die milden Temperaturen. Seine Haare waren lang und verfilzt; eine Frisur war nicht zu erkennen. Und sie gingen nahtlos in einen ebenso wuchernden Bart über. Das Alter war schwer einzuschätzen. Sein Gesicht war hohlwangig. Aber es gehörte eindeutig einem eher jüngeren Mann, vielleicht um die dreissig. Seine Gesundheit jedoch war kaum die beste.

Er sprach Portugiesisch. Ich verstand kein Wort.

«Sorry, ich habe nichts verstanden», entgegnete ich ihm, als er seinen Redeschwall beendet hatte. Zu meiner Überraschung antwortete er in perfektem Englisch. Die Botschaft war einfach: Er wollte ein paar Münzen, angeblich für ein Sandwich. Allerdings formulierte er seine Bitte äusserst höflich, ja beinahe elegant. Ich kramte im Portemonnaie und gab ihm zwei Euro. Er bedankte sich mit einem Kopfnicken, wünschte mir «God bless you!» und ging mit etwas steifen, aber hastigen Schritten davon.

Er sah in meinen Augen weniger aus wie ein Bettler, eher wie ein Schiffbrüchiger, ein Robinson Crusoe mitten in Ponta Delgada.

Er sah in meinen Augen weniger aus wie ein Bettler, eher wie ein Schiffbrüchiger, ein Robinson Crusoe mitten in Ponta Delgada. Fehlten nur Hund und Ziege, dachte ich. Allerdings dürfte es kein Sturm gewesen sein, der ihn an diese Küste gespült hatte. Ich hatte, noch bevor ich zu den Azoren aufgebrochen war, die Geschichte von dem Schmuggler gelesen, der eine halbe Tonne Kokain auf São Miguel versteckt hatte. Fischer hatten die Fracht entdeckt und auf der Insel in Umlauf gebracht. Das Kokain hatte vor allem in einem Dorf an der Nordküste seine Spuren hinterlassen. Aber es hatte sich natürlich bis nach Ponta Delgada ausgewirkt und vielleicht diesen Robinson hergelockt.

Ich trank meinen Kaffee aus, knabberte etwas am Croissant und ging anschliessend ebenfalls weiter die Strasse entlang. Ich hatte keine 50 Meter zurückgelegt, als ich zur wuchtigen Kathedrale gelangte. Mit ihren weissen Mauern und den wulstigen Ornamenten aus schwarzem Vulkangestein sah sie aus wie aus Zuckerguss und Schokolade gebaut. Dahinter lag ein grosszügiger Platz mit einem eleganten Café. Die Terrasse breitete sich über das mit Mosaiken verzierte Kopfsteinpflaster aus. An den Tischen sassen elegant gekleidete Menschen, tranken Cappuccino und frühstückten. Auf dem Platz sah ich auch den Bettler wieder. Er ging hin und her, hielt nach Passanten Ausschau, die er ansprechen konnte. Er schloss sich ihnen für ein paar Meter des Wegs an und deckte sie mit seinen Worten ein, wie zuvor mich. Die meisten vermieden den Blickkontakt. Ein paar ältere Frauen beschimpften ihn und jagten ihn davon. Doch einige der Angesprochenen zückten ihren Geldbeutel und spendeten ein paar Münzen. Dem Aussehen nach waren es vor allem Ausländer wie ich, die sich erweichen liessen.

In den kommenden Tagen begegnete ich dem Mann immer wieder. Und immer aufs Neue wurde ich von ihm angesprochen, als würde er mich zum ersten Mal um eine milde Gabe bitten. Einmal trug er ein dickes Buch unter dem Arm. Es sah zerlesen aus, die Seitenränder waren braun wie sein Haar. Ich konnte den Titel lesen: «Lord Jim» von Joseph Conrad. Ich war überrascht, hätte nicht erwartet, dieses Buch im Besitz eines solchen Menschen zu sehen. Als ich noch Lehrer war, wollte ich sie mit meinen Schülerinnen und Schülern lesen, diese Geschichte von dem strahlenden jungen Seemann, der von Heldentaten träumt, aber in einem entscheidenden Moment feige ist. Mich hat sie immer gefesselt. Aber sonst niemanden. «Altmodisch» war noch das mildeste Urteil, das die Kids abgegeben hatten, wenn sie denn einmal von ihren Smartphones aufblickt hatten.

Ich war wahrscheinlich nie wirklich für den Schuldienst geeignet. Die Lektüre von Conrad hat mir klar gemacht, dass ich in einer anderen Welt zuhause sein wollte. Ich gab meine Stellung auf, kaufte ein Boot und segelte los. Das klingt alles sehr einfach. Aber die Leinen zu einem gewohnten Leben zu kappen, ist schwerer, als man denkt. Mehr als einmal wachte ich mit klopfendem Herzen mitten in der Nacht auf, erschrocken über meinen eigenen Mut, der mich um die Sicherheit eines geregelten Einkommens, einer Altersrente und vielleicht um eine unkomplizierte Beziehung mit einer Kollegin brachte, die sich durch zarte Blicke im Lehrerzimmer anzukündigten schien.

Vielleicht tat ich es am Ende einfach, weil ich zu stolz war, oder aus Trotz. Und um all denen eins auszuwischen, die über meine Pläne lachten, insgeheim oder ganz offen. Ich suchte auch keine Begleitung, weil ich glaubte, ohnehin würde es niemand mit mir aushalten – oder ich es mit jemand anderem. Ich segelte zunächst ohne eigentliches Ziel bis zur Nordwestspitze Spaniens. Dort traf ich einen alten Franzosen, der schwärmte von den Azoren und fachte mein inneres Feuer an. Und so brach ich auf, ungeachtet der Jahreszeit und der Warnungen der nautischen Reiseführer.

«WIR SEHEN UNS WIEDER!»

Obwohl mich der Anblick des Buches rührte, schüttelte ich auch dieses Mal nur den Kopf und ging am Bettler vorbei. Dann geschah etwas, das alles veränderte. Wiederum war es in einer der engen Gassen hinter den Hochhäusern, als er auf mich zukam. Ich hatte wohl einfach genug vom ständigen Neinsagen und blickte mich nach einer Ausweichmöglichkeit um. Es blieb mir nur die Flucht in ein Geschäft für elektronische Geräte. Ich schlüpfte durch die Tür und drückte sie so schnell wie möglich zu. Aber er war schon herangetreten und presste sein Gesicht gegen die Scheibe. «Du, du, du…», drang es in wütendem Stakkato durch die Tür. Das richtige Schimpfwort schien ihm aber nicht einfallen zu wollen. Doch durchs Glas funkelten seine zornigen Augen mich an. Gleichzeitig sah ich mein Gesicht darin gespiegelt. Und dann bewegten sich seine Lippen. Es waren stumme Worte auf Englisch. Aber er formte sie so deutlich, dass ich sie nicht missverstehen konnte: «WIR SEHEN UNS WIEDER!» Er wandte sich schnell ab und entfernte sich in seiner merkwürdigen Gangart.

«Kann ich Ihnen helfen?», hörte ich eine Stimme in meinem Rücken. Verwirrt drehte ich mich um. Ein Verkäufer lächelte mir erwartungsvoll zu. Ich stammelte eine Entschuldigung und verliess den Laden wieder. Vor der Tür schaute ich mich um. Aber der Bettler war weg.

Nach dieser Begegnung war mir die Lust auf einen Stadtrundgang vergangen. Ich kehrte aufs Boot zurück und begann, mich mit allem möglichen zu beschäftigen. Aber was ich anfing, liess ich unbeendet liegen. Ich spürte eine Unruhe in mir, die mich umtrieb, mir gleichzeitig die Konzentration raubte. Ich konnte nicht lesen, nicht kochen und schon gar nicht mich hinlegen und die Augen schliessen. Tat ich es, sah ich den Bettler durch die Glasscheibe vor mir, wie er seine Lippen bewegte.

Ich entschloss mich, die Insel so rasch wie möglich wieder zu verlassen. Ich hatte genügend Vorräte an Bord, selbst für eine längere Reise. Und ich redete mir ein, es wäre nur vernünftig, aufs Festland zurückzukehren, bevor die Herbststürme kämen. Ich konsultierte eine Webseite mit einem Wetterbericht für die kommenden Tage. Es sah nicht schlecht aus. Und zur Not könnte ich immer noch nach Süden ausweichen, nach Madeira oder zu den kanarischen Inseln. Mein Plan stand fest.

Der Hafenmeister machte grosse Augen, als ich ihm diesen kundtat. «Sie sind doch erst angekommen? Und schon wieder weiter?», fragte er.

Ich murmelte etwas von einem Zwischenfall und dringender Termine, bezahlte die Rechnung und meldete mich anschliessend beim Zoll ab. Ich ging direkt zurück an Bord, vermied es, noch einmal in die Stadt zu betreten. Eine halbe Stunde später warf ich die Leinen los und steuerte das Boot in den Vorhafen.

Sobald ich die Verbindung zum Land gelöst hatte, fühlte ich mich ruhiger, und als das Boot die ersten Wellen zu spüren bekam, entspannte sich die Klammer um mein Herz und ich atmete tief durch. Ich setzte die Segel und legte einen Kurs fest, der mich zurück nach Nordspanien führen sollte.

Es wehte ein steter Wind von Westen, der das Boot vor sich hinschob. Ich musste nicht steuern. Das beschaffte ein Autopilot. Ich sah einen Frachter von achtern aufkommen. Er war mehr als dreimal so schnell unterwegs wie wir, und es dauerte keine zwanzig Minuten, bis er auf zwei Meilen heran war. In diesem Augenblick piepste das AIS, das Automatic Identification System. Es sendet und empfängt Signale von Schiffen über den UKW-Funk. So erkennt man ihre Identität, weiss über ihren Kurs und ihre Geschwindigkeit Bescheid. Und es warnt vor gefährlichen Begegnungen. Nicht alle Schiffe sind damit ausgerüstet. Für Frachter wie dieses Containerschiff jedoch ist das System Vorschrift. Für Yachten wie die meine ist es eine Art Lebensversicherung.

Mit dampfendem Schlot zog der Riese vorbei. Über der schwarzen Bordwand stapelten sich die Container wie bunte Bauklötze. Schiffe wie diese sind das Rückgrat der Globalisierung. Zu Tausenden durchpflügen sie die Meere mit all dem überflüssigen Kram, ohne den meine Schüler offenbar nicht mehr leben konnten, dachte ich. Ihre Dimensionen sind furchteinflössend. Würde ich mit meiner Yacht unter ihren Bug geraten, es gäbe kein Überleben. Auf der Brücke des Frachters würde man indes die Kollision nicht einmal spüren. Ich war froh um die Technik, die mich schützte. Und so schaute ich dem Schiff nach, das seinem Ziel entgegenfuhr, gelassen in der Gewissheit, dass das Meer gross genug war für uns beide.

Ich setzte mich ins Cockpit, den Rücken an die Wand neben dem Niedergang gelehnt, ass und schaute dem Schauspiel der untergehenden Sonne zu.

Ich fand rasch in meine Bordroutine. Als die Sonne im Westen sich dem Horizont näherte, bereitete ich mein Abendessen, einen Eintopf aus Hühnchen und Reis mit viel Currypulver und der letzten Büchse Kokosmilch. Ich setzte mich ins Cockpit, den Rücken an die Wand neben dem Niedergang gelehnt, ass und schaute dem Schauspiel der untergehenden Sonne zu. Die Insel, die ich vor Stunden verlassen hatte, zeichnete sich noch als schwarze Silhouette vom Horizont ab und ich dachte über meinen Aufbruch nach. Hatte ich mich tatsächlich von einem Bettler in die Flucht schlagen lassen? Auf jeden Fall hatte ich überstützt gehandelt. Nun fehlten ein paar Ersatzteile, ohne die ich eigentlich nicht hätte aufbrechen wollen und die ich Ponta Delgada bestimmt gefunden hätte. Und eine weitere Wettervorhersage aus einer zweiten Quelle hätte auch nicht geschadet. Ich hatte mich bis jetzt für einen vorsichtigen Segler gehalten. Mir war, als hätte ich eine Grenze überschritten. Aber ich war nun einmal unterwegs. Alles lief reibungslos. Wir kamen voran und die See schien es gut zu meinen mit mir und meinem Boot.

Als die Sonne im Meer versank, der Himmel ein letztes Mal aufflammte, ging ich unter Deck, schaltete die Lichter für die Nachtfahrt ein. Wenn ich unterwegs war, schlief ich nicht vorne im Bug, wo ich eine breite und bequeme Koje besass, sondern in der Mitte des Schiffes. Links und rechts eines Tisches, dessen Platte sich auf beiden Seiten niederklappen liessen, waren Sitzbänke angeordnet, auf denen ich mich mühelos ausstrecken konnte. Hier war ich näher an den Instrumenten und beim Steuer. Vor allem aber waren die Schiffsbewegungen sanfter. Damit ich trotzdem nicht aus der Koje geschleudert wurde, spannte ich seitlich ein Tuch, ein sogenanntes Leesegel. So lag ich geborgen wie in einer Wiege. Ich lauschte noch eine Weile den Geräuschen des Bootes: dem Knarren der Schoten, den Wellen, die gegen die Bordwand schlugen. Bis ich einschlief.

Vor mir sah ich ein Etwas, das grell erleuchtet war.

Auf See ist mein Schlaf jedoch leicht. Die Sinne bleiben wach und nehmen kleinste Veränderungen war. So drang ein Geräusch in mein Bewusstsein, das nicht zum Schiff passte. Es war wie ein Flüstern, eine Stimme, die mir fremd und doch vertraut vorkam. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Ich schlug die Beine über das Leesegel, ging zum Kartentisch und warf einen Blick auf das AIS. Nichts. Ich stieg die Stufen zum Cockpit hoch. Schaute durch die Fenster der Stoffkappe, die über den Niedergang gespannt ist. Und erschrak.

Vor mir sah ich eine bizarre Lichterscheinung. Mehrere Scheinwerfer waren aufs Wasser gerichtet. Ein Fischer. Kein Zweifel. Und wir steuerten geradewegs auf ihn zu. Ich war keine Sekunde zu früh an Deck gekommen, stürzte hinter das Steuerrad, schaltete den Autopiloten aus und liess das Boot um 90 Grad abfallen. Plötzlich fuhr einer der Scheinwerfer des Fischers vom Wasser hoch. Sein Licht blendete mich, als er das Schiff traf wie ein Finger, der uns wegstossen wollte. Ich hörte Geschrei. Aber ich konnte nicht erkennen, was sich auf dem Trawler tat. Nah genug passierten wir den Fischer, und ich hoffte, wir würden uns nicht irgendeiner Leine oder einem Netz verfangen. Wir kamen vorbei und langsam entfernten wir uns. Der Scheinwerfer liess uns wieder los und fuhr zurück auf die Wasseroberfläche, als wäre nichts geschehen. Erst, als die Lichter des Fischers fast zu einem einzigen hellen Ball verschmolzen waren, ging ich wieder auf den alten Kurs zurück und schaltete den Autopiloten ein.

Eine der wichtigsten Regeln auf See lautet, ständig Ausguck zu halten.

Mein Herz schlug bis zum Hals. Meine Hände zitterten. Ich stellte mir vor, was geschehen wäre, wäre ich nicht rechtzeitig aufgewacht. Eine Frontalkollision mit einem Trawler hätte vor allem mein Boot arg mitgenommen. Es hätte mich den Mast kosten können. «Verdammter Fischer», dachte ich, warum hatte er sein AIS nicht eingeschaltet? Gleichzeitig wusste ich, dass es meine Schuld gewesen wäre, hätten wir ihn gerammt. Eine der wichtigsten Regeln auf See lautet, ständig Ausguck zu halten. Wer alleine segelt, muss gegen diese Regel verstossen, zwangsläufig. Und die Technik ist eben doch nur ein Behelf.

Ich legte mich wieder in Koje, stellte aber den Timer meines Handys auf 20 Minuten ein. Sie verstrichen, ohne dass ich ein Auge zutat. Ich dachte an das Geräusch, das mich geweckt hatte und horchte angestrengt. Aber ich hörte nun nichts Ungewöhnliches mehr. Als die 20 Minuten um waren, stand ich auf, ging an Deck und schaute mich um. Es war nichts zu sehen auf der schwarzen Fläche, die uns umgab. Über uns aber spannte sich ein Himmel voller Sterne und im Kielwasser funkelte das Meeresleuchten. In anderen Nächten war ich gefesselt von diesen Erscheinungen, von der Unendlichkeit des Kosmos, durch den wir flogen, von der immensen Grösse des Meeres, das wir befuhren, und in dessen Tiefe sich ein Leben abspielte, das uns so fremd war, als würden wir tatsächlich über einen unbekannten Planeten hinziehen. Aber in dieser Nacht fehlte mir der Sinn für solche Gedanken, für die Ehrfurcht gegenüber einem Element, auf dem ich nur dank eines seetüchtigen Schiffes überleben konnte. Und so ging es die restliche Nacht weiter: Alle 20 Minuten stand ich auf, suchte den Horizont nach einem Licht ab. Aber es war keines auszumachen. Ich blieb allein.

Als der Morgen dämmerte, entspannte ich mich etwas. Dafür spürte ich die Müdigkeit, die auf mir lastete. Das Denken fiel mir schwer. Es dauerte Minuten, bis ich auf der Karte meine Position eingetragen hatte: Längen- und Breitengrade vom Rand der Karte abgelesen und das Kreuz gesetzt, das bezeichnete, wo ich mich gerade befand. Viel, viel näher noch bei der Insel als bei meinem Ziel, der Nordwestspitze Spaniens.

Der Morgen verstrich, der Nachmittag brach an und der Seegang nahm zu, ohne dass der Wind stärker wurde. Das Schiff rollte unruhig und es war kaum möglich, die Segel so zu stellen, dass sie nicht ständig schlugen. Ich versuchte alles, aber nichts schuf Abhilfe, keine Ziehen oder Lösen der Schoten, keine Kursveränderung. Die nervenaufreibenden Stunden dauerten bis zur Abenddämmerung. Dann begann es, zuerst böig, schliesslich konstant stärker zu blasen. Gleichzeitig drehte der Wind nach Norden, was bedeutete, dass er nun schräg von vorne einfiel. Zwar ging es jetzt schneller voran. Aber weil sich das Boot stärker zur Seite neigte, war die Fahrt unangenehm; mein Leben an Bord wurde zu einer Turnübung.

Zu kochen, war schwierig. Ich versuchte es mit Chili con Carne aus der Dose. Der Herd schwankte hin und her in seiner Aufhängung. Ich hielt mich mit der einen Hand fest, mit der anderen rührte ich in der Pfanne. Ich ass gleich neben Herd im Stehen aus dem Topf. Der landete anschliessend in der Spüle. Der Abwasch musste warten.

Ich beschloss, diese Nacht etwas gnädiger mit mir zu sein und den Timer auf jeweils eine halbe Stunde einzustellen. Aber ohnehin würde es nicht leicht sein zu schlafen. Das Boot stampfte wie ein wildes Pferd. Wenn ich mich durchs Schiff bewegte, musste ich mich festhalten, als würde ich eine Felswand entlang klettern. Zudem war es laut unter Deck. In den Schränken klapperten die Pfannen. Eine der runtergeklappten Tischplatten klopfte gegen ihre Halterung, wie der Fingerknöchel eines ungeduldigen Lehrers auf das Pult eines säumigen Schülers. Gegen den Mast trommelte eine Leine, die nicht genügend gestrafft war. Und dann die Wellen, die zuweilen krachend über das Deck brachen und gegen die Fenster der Kappe über dem Niedergang schlugen, als würde ein Riese seinen Wassereimer dagegen ausschütten.

Ich hatte die Segel schon einmal gerefft, als der Wind zugelegt hatte, und ich dachte, wir würden so gut durch die Nacht kommen. Alle halbe Stunde schälte ich mich aus meiner Koje, hangelte mich durch die dunkle Kabine und stieg die Treppe hoch, um meinen Kopf durch die Luke zu stecken, Ausschau zu halten nach Schiffen, die mein AIS nicht erfasst hatte. Trotz des Lärms und dem Stampfen des Schiffes, gelang es mir, irgendwann Schlaf zu finden.

Es war zwischen zwei und halb drei Uhr, als ich unsanft geweckt wurde. Eine grosse Welle musste unter uns durchgelaufen sein. Sie hatte das Schiff auf die Seite gedrückt. Ich lag auf der Seitenwand. Das Leesegel stand über mir. Mit einem Ruck richtete sich das Boot wieder auf, nur um gleich wieder niedergepresst zu werden. Ich hörte die Segel schlagen. Es klang, als würde ein Maschinengewehr abgefeuert.

Ich rappelte mich aus der Koje und schaffte es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben. Als erstes musste ich etwas gegen das Schlagen der Segel unternehmen. Ich kletterte ins Cockpit. Der Wind hatte weiter zugelegt. Doch es war vor allem die See, die sich verändert hatte. Hohe, steile Wellen rollten gegen das Boot an. Sie trugen weisse Schaumkronen und überfluteten eins ums andere Mal das Deck. Für den Autopiloten war das zu viel. Er konnte das Schiff nicht mehr auf Kurs halten. Ich klinkte ihn aus, drehte am Steuer, bis das Boot wieder richtig lag. Aber wie sollte ich nun reffen? Dafür würde ich das Steuer loslassen müssen, und das Boot würde seine Nase direkt in den Wind drehen. Eine besonders grosse Welle brach über das Vorschiff herein und deckte mich mit einem Schwall kalten Wassers zu.

Es half nichts. Ich liess das Steuer fahren, gleichzeitig löste ich die Schot des Grosssegels. Dieses begann wieder wild zu schlagen. Zum Glück konnte ich die Segel reffen, ohne das Cockpit zu verlassen. Ich liess das Grosssegel ein wenig heruntergleiten und zog die Reffleine nach. Es dauerte nur wenige Minuten, bis ich das Segel soweit verkleinert hatte, dass ich gefahrlos weitersegeln konnte. Aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Nach dem Grosssegel war das Vorsegel an der Reihe. Als ich es löste, um es zu verkleinern, schlug auch dieses und knallte so laut, als würde jeden Moment in Fetzen gehen. Es hielt. Ich brachte das Schiff wieder auf Kurs. Das Schlagen hörte auf. Ich konnte den Autopiloten wieder einschalten.

Ich liess mich auf die Bank im Cockpit fallen. Die Anstrengung hatte mich erschöpft. Ich war durchnässt und zitterte vor Kälte. Bis zum Morgengrauen würde es noch Stunden dauern. Um mich herum tobte die See. Ich konnte sie hören. Aber ich sah die Wellen erst unmittelbar, bevor sie das Boot trafen. Ich beschloss, deutlich nach Süden zu drehen, damit die Wellen eher von hinten kämen. Würde ich halt in Portugal landen und nicht in Spanien, dachte ich. Was tat’s. Es schien mir vernünftiger, als gegen die Elemente zu kämpfen.

Unter Deck schälte ich mich aus den nassen Kleidern. Immer wenn ich eine Hand von einem der Griffe löste, an denen ich mich festhielt, wurde ich aus dem Gleichgewicht geworfen. Ich landete dreimal auf dem Boden, stiess mir die Rippen und die Ellbogen. Schliesslich gab ich auf. Blieb liegen, streifte ab, was ich anhatte und zog eine Decke über mich. Meine Zähne klapperten und mein Körper fühlte sich an, als wäre er mit Prügel überzogen worden. Irgendwann schlief ich ein.

Der Morgen dämmerte, als ich erwachte. Ich wusste es nicht genau, aber ich glaubte, dasselbe Geräusch hatte mich geweckt wie in der letzten Nacht. Ich schlug die Augen auf. Graues Licht fiel durch den Niedergang und die Luken. Das Boot bewegte sich ruhiger. Doch dieses Mal dauerte das Geräusch an. Es war eine Stimme und sie wiederholte die immer gleichen Worte: «Du, du, du». Pause. «Du, du, du». Ich wusste, wem sie gehörte.

Schlafentzug wirft den stärksten Seemann um und stürzt einen in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung.

Wie festgefroren blieb ich auf dem Fussboden meines Bootes liegen. Ich wagte nicht aufzublicken. «Du, du, du», hörte ich die Stimme wiederholen. Nein, ich träumte gewiss. Oder ich halluzinierte. Ich hatte von Seglern gelesen, die vor lauter Übermüdung Stimmen hörten – wie aus dem Radio – oder die sahen, wie sich die Taue ihrer Boote bewegten wie sich windende Schlangen. Schlafentzug wirft den stärksten Seemann um und stürzt einen in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung. Bis jetzt war ich einigermassen glimpflich davongekommen, dachte ich. Doch die beiden letzten Nächte waren wohl zu viel gewesen für mich.

«Du, du, du», sagte die Stimme ein weiteres Mal. Ich drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie kam, und sah die beige Cordhose des Bettlers. Die Füsse steckten in ausgelatschten Mokassins. Wenigstens trägt er Bordschuhe, ging es mir durch den Kopf. Die Sorge um Kratzer auf dem polierten Holzboden war in diesem Augenblick so absurd, dass ich überzeugt war zu halluzinieren. Ich hob den Kopf etwas mehr. Da sass er, am Fussende der gegenüberliegenden Bank. Seine stechenden Augen fixierten mich. Sein wucherndes Haar umhüllte seinen Kopf wie ein Helm. Warum musste er sich nicht festhalten, dachte ich, während ich selbst am Boden liegend gegen die Schiffsbewegungen kämpfen musste. Wobei sich mein Körper eher anfühlte, als gehöre er einer willenlosen Puppe. Die Glieder widersetzten sich meinem Willen. Ich musste sie zwingen, sich zu regen, die Hände gegen den Boden zu stemmen, mich aufzurichten. Es erforderte meine ganze Kraft, auf die Knie zu kommen. Als es mir endlich gelang, sah ich, dass der Bettler verschwunden war. Ich hatte geträumt. Natürlich hatte ich geträumt. Ich wischte mir über die Stirn. Sie war schweissnass. Ich schüttelte den Kopf, wie ich es getan hatte, wenn einer der Schüler etwas besonders Dummes gesagt hat.

Die Kälte, die in mir steckte, war entsetzlich. Ich zog alles an, was ich an warmer Kleidung fand und fröstelte trotzdem. Der Tag dämmerte mit einer merkwürdigen Farbe heran. Der Himmel im Osten war in ein giftiges Gelb getaucht, fast wie das Gelb der Becken mit den heissen Quellen. Der Wind hatte etwas abgenommen und war auf seine ursprüngliche Richtung zurückgesprungen. Die See aber war noch immer konfus und feindselig. Ich schaffte es, Kaffee aufzusetzen. Als ich ihn die Tasse goss, schüttete ich einen Strahl über die Hand. Ich liess die Tasse in die Spüle fallen. Sie klatschte in den Topf mit den Resten des Chilis. Den übrigen Kaffee leerte ich hinterher. Ich bereute es sogleich. Ich liess kaltes Wasser über die Hand laufen und wickelte sie in ein nasses Tuch ein. Ich sank auf die Bank vor dem Kartentisch, stützte die Arme auf und legte den Kopf auf sie.

Er verspottet mich, ging mir durch den Kopf.

«Habe ich es dir nicht gesagt. Wir werden uns wiedersehen», hörte ich die Stimme sagen. Mit einem Ruck richtete ich mich auf. Da sass er, der Bettler, in derselben Ecke wie vorher. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die Manschetten seines Hemds waren offen und schlenkerten wie lose Segel um seine dünnen Gelenke. Ein schiefes Lächeln lag auf seinen Lippen, um die der Bart wie schmutziger Filz stand.

«Du, du, du», sagte er, aber es klang beinahe melodiös, als würde er ein Lied anstimmen wollen.

Er verspottet mich, ging mir durch den Kopf. Es machte mich wütend. Meine freie Hand tastete nach einem Gegenstand, den ich ihm entgegen schleudern konnte. Aber sie fand nur den Bleistift, mit dem ich meine Karteneinträge machte.

«Ich was?», schrie ich ihn an. «Sag schon!»

Aber er säuselte nur sein Du-du-du.

«Du hast hier nichts zu suchen. Verschwinde!», zischte ich. Meine Stimme hörte sich heiser an. Ich hatte zulange nichts getrunken.

 «Aber es gefällt mir hier. So eine Seefahrt ist doch etwas Schönes, nicht wahr?», grinste der Bettler. «Aber du solltest was auf deine Hand tun», sagte er, «und mal nach dem Rechten sehen.»

Er hatte recht. Die Kajüte war in entsetzlicher Unordnung und meine Hand unter dem Tuch brannte. Meine nassen Kleider lagen verstreut auf dem Boden. Ich hatte überdies schon lange keinen Karteneintrag mehr gemacht. Und wann hatte ich das letzte Mal nach anderen Schiffen Ausschau gehalten? Ich wusste es nicht mehr. Ich kontrollierte das GPS, trug auf der Karte meine Position ein, behielt aber den Bettler im Blick. Ich stand auf, sammelte meine Kleider ein, vermied es gleichzeitig, dem Mann auf der Bank zu nahe zu kommen. Ich knüllte die feuchten Kleider zu einem Knäuel zusammen und warf sie nach vorne in die Bugkajüte. Im Sanitätskoffer neben dem Kartentisch suchte ich nach einer kühlenden Salbe, schmierte sie über die Hand und wickelte diese wieder in das Tuch ein.

Schliesslich stieg ich an Deck. Der Himmel war zwar noch bewölkt. Aber es schien von Westen her aufzuklaren. Die See hatte sich weiter beruhigt. Ich brachte die Segel in Ordnung, kontrollierte den Kurs auf dem Kompass und ging wieder unter Deck. Der Bettler war verschwunden. Aber ich traute der Sache nicht. Ich schaute in der Bugkabine nach, im Bad. Ich öffnete sogar die Schränke. Er war nirgends zu sehen. Ich räumte weiter auf. Legte mich in meine Koje und schlief sofort ein.

Ich wachte erst gegen Mittag wieder auf. Die Gliederschmerzen waren etwas abgeklungen. Auch der Hand ging es besser. Mein Kopf war zwar noch schwer und die ersten Schritte tat ich, als wäre ich aus einer Narkose aufgewacht. Aber meine Kräfte würden zurückkehren, ich müsste nur etwas essen und vor allem etwas trinken. Fast in einem Zug leerte ich eine Flasche Wasser. Ich fand eine Schachtel Knäckebrot und stopfte ihren Inhalt in mich hinein. Nun dachte ich über meine Situation nach. Bis jetzt hatte ich Glück gehabt. Aber darauf konnte ich mich nicht verlassen. Mir war die Kontrolle über mich und das Boot entglitten. Ich bräuchte einen Plan, wie sich das in Zukunfte vermeiden liesse. Ich würde mich darum kümmern. Später. Sobald ich mich weiter erholt hätte.

Das Schiff zog dahin wie auf einem riesigen blauen Teller mit entzückenden Ornamenten, dessen Rand der ferne Horizont war.

Als ich an Deck stieg, blendete mich das Licht der Sonne, die schon ihren Zenit überschritten hatte. Es war, als sei die Welt ausgetauscht worden. Zogen noch vor wenigen Stunden Schaumkronen wie sprudelnde Bänder über eine aufgewühlte See, krönten nur noch vereinzelt weisse Spitzen den einen oder anderen Wellenkamm. Das Schiff zog dahin wie auf einem riesigen blauen Teller mit entzückenden Ornamenten, dessen Rand der ferne Horizont war.

Es schien, als sei mein Glück zurückgekehrt und vor mir läge nun unbeschwertes Segeln. Ich würde aber noch mindestens drei Tage unterwegs sein. Alle Seeleute sind abergläubisch. Ich bin keine Ausnahme. Ich verbot mir deshalb, mein Schicksal herauszufordern, kontrollierte meine Leinen, die Segel, die Instrumente, als stünde ein Sturm bevor. Aber es ist ebenfalls ein Gesetz der Seefahrt, dass kaputt geht, womit man nicht rechnet. Die Katastrophe kündigte sich mit einem Quietschen an, das von der Ruderanlage herkam. Als das Schiff plötzlich vom Kurs abkam und der Autopilot auf keine Korrektur mehr reagierte, wusste ich, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten war.

Es gibt Schiffe, die auch Steuerhilfe auf Kurs bleiben. Die legendäre «Spray» des Amerikaners Joshua Slocum gehörte zu dieser seltenen Schiffsspezies. Slocum hatte Ende des 19. Jahrhunderts in einer Zeit lange vor Autopiloten und elektronischen Warnanzeigen als erster allein die Welt umsegelt. Er war ein Vorbild, eines von vielen. Aber mein Boot besass die Fähigkeit der «Spray» nur begrenzt. Ich konnte das Steuer zwar für eine Weile festbinden. Doch so präzise ich die Segel auch einstellte, früher oder später lief die Yacht wieder aus dem Ruder. Es gab zwar die Möglichkeit, für ein paar Stunden Schlaf das Schiff beiliegen zu lassen, es also mit gesetzten Segeln driften zu lassen. Aber das würde meine Reise deutlich verlängern. Die Vorräte und vor allem das Wasser würden zur Neige gehen, bevor ich irgendwo ankam. Also galt es, so zügig zu segeln, wie es nur ging. Doch wie lange würde ich am Steuer ohne Schlaf aushalten? Zwölf Stunden? Zwanzig? Ich war mitten auf dem Ozean, allein, und nun verliess mich auch noch die Technik. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg. Ich durfte mich nicht gehen lassen. Ich musste Ruhe bewahren. Es musste eine Lösung geben.

Ich drehte bei, fixierte das Ruder und machte mich auf die Suche nach der Ursache des Problems. Sie war rasch gefunden. Ein Übertragungsriemen war gerissen. Ersatz hatte ich in Ponta Delgada beschaffen wollen, es wegen der überstürzten Abfahrt aber unterlassen. Jetzt fehlte er. Ich suchte verzweifelt nach einer Alternative und verbrachte Stunden damit, den Riemen auszubauen und irgendwie zu reparieren. Doch kaum hatte ich ihn wieder eingespannt, quietschte es erneut und der Autopilot versagte.

Es half nichts. Ich musste mich in die Situation fügen. Ich machte mir etwas zu essen, stellte eine Flasche Wasser ins Cockpit. Ich wusste, dass die schwersten Stunden meiner Reise nun vor mir lagen. Damit ich die Nerven behielt, stellte ich mir meine Ankunft vor, die Erleichterung beim Festmachen der Leinen, die warme Dusche in der Marina, ein ungestörter Schlaf in der Bugkabine. Ich versuchte mir, diese Bilder so plastisch wie möglich auszumalen. Eins ums andere Mal rechnete ich mir vor, wie lange es bis zu dieser Erlösung noch dauern würde. Bei jeder Rechnung fiel die Zahl der Stunden kleiner aus. Ich betrügte mich selbst, nur damit ich nicht vor Angst zusammenbrach. Wenigstens hatte ich eine Stellung gefunden, die einigermassen bequem war. Ich hatte mir eine Decke geholt, in die ich eingeschlagen in einer Ecke des Cockpits hockte, eine Hand am Rad. Doch es war unvermeidlich, dass ich irgendwann einschlief und nach ein paar Minuten von schlagenden Segeln oder vom Stampfen des Bootes geweckt wurde.

Ich kann nicht mehr genau sagen, wann es geschah. Ich war wieder einmal eingenickt und erwachte wohl nach ein paar Minuten, ohne zu wissen warum. Ich öffnete die Augen einen Spalt breit und sah ihn neben mir stehen, das Steuer in festem Griff, den Blick geradeaus. Der Wind zerrte an seinem langen Haar. Aber er lächelte. Er sah kurz zu mir herab und blinzelte mir zu. Ich war in diesem Augenblick ohne jedes Empfinden. Es war mir völlig egal, ob ich träumte oder wach war, ob mein Gehirn mir gerade einen Streich spielte oder tatsächlich ein Geist mein Schiff steuerte.

Ich schloss die Augen wieder. Da erinnerte ich mich an das Buch, das der Bettler bei sich getragen hatte. Und ich fragte ihn, bevor ich wegdämmerte: «Warum hast du das gelesen?»

«Habe ich was gelesen?», fragte der Bettler zurück.

«Lord Jim.»

«Ach das. Hab es nicht gelesen, nicht ganz. War zu von gestern. Sei mal ehrlich, schon der Titel klingt verstaubt. Ich hab’s irgendwo liegengelassen. Möge glücklich werden damit, wer mag.»

Es hörte sich an, wie ein Echo aus einer fernen Vergangenheit. Ich nickte und schlief ein.

Ich klaubte das ölige Fleisch mit den Fingern aus der Büchse, stopfte es mir in den Mund und würgte es hinunter.

Es war Morgen, als ich erwachte, ein schöner, sonniger, warmer Morgen. Das Boot dümpelte vor sich hin. Es herrschte Flaute. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine gaben nach. Sie waren vom langen Sitzen völlig taub. Ich hatte entsetzlichen Durst. Ich griff nach der Wasserflasche in der Ecke des Cockpits und leerte sie. Das Wasser schmeckte fahl. Aber das war mir gleich. In den Schränken der Pantry suchte ich nach etwas Essbarem. Ich fand eine Büchse Thunfisch. Als ich an der Lasche auf dem Deckel zog, brach sie ab. Ich war so wütend, dass ich die Büchse quer durchs Schiff schleuderte. Schliesslich ging ich ihr nach, kramte den Büchsenöffner hervor und hebelte sie auf. Ich klaubte das ölige Fleisch mit den Fingern aus der Büchse, stopfte es mir in den Mund und würgte es hinunter. Wie ein gieriger Vogel, der einen Fisch gefangen hat, dachte ich. Nach einer Weile ging es mir besser. Ich wusch mir die Hände und setzte mich an den Kartentisch. Es war erstaunlich. Wir waren gut vorangekommen.

Ich dachte an den Bettler. Warum träumte ich nur ständig von ihm? Auf keinen Fall war da irgendjemand anders an Bord ausser mir selbst, und schon gar nicht ein geheimnisvoller Steuermann. Aber ich konnte mir auch nicht erklären, wie es möglich war, sozusagen steuerlos auf dem richtigen Kurs viele Meilen gesegelt zu sein.

Ich musste die Gedanken an ihn verdrängen. Um meiner selbst willen, denn ich fürchtete, die Halluzinationen könnten schlimmer werden. Auf den Wind wollte ich nicht warten. Mein Dieseltank war noch gut gefüllt. Zwar würde die Reserve nicht für die ganze Strecke bis zum Festland reichen. Aber um aus der Flaute rauskommen, hatte ich genug im Tank. Ich musste einfach noch einen Rest für das Manövrieren im Hafen vorsehen. Ich holte das Vorsegel ein, startete die Maschine und legte den Gang ein. Lief der Motor, hielt das Boot etwas länger Kurs. Aber ganz alleine konnte ich es auch unter Maschine nicht fahren lassen. Immerhin reichten die Intervalle, um mir ab und zu etwas zu trinken oder zu essen zu holen und andere Bedürfnisse zu stillen.

Als die Nacht hereinbrach, war der Wind noch immer zu schwach zum Segeln. Wieder machte ich es mir in der Ecke hinter dem Steuer gemütlich. Einzuschlafen war allerdings unter Motor noch riskanter als unter Segel, denn ich würde nicht merken, wenn das Schiff sich drehte. Die See war ruhig, das Grosssegel dicht geholt, das Vorsegel eingerollt. Hier würde nichts flappen, das mich aus dem Schlaf reissen würde.

Hätte es einen sicheren Ort gegeben, ich hätte mich dorthin verkrochen.

Das tat ein Knall und gleichzeitig eine Erschütterung, die das Boot erzittern liess. Wir hatten etwas gerammt, einen Wal, einen Container. «Nein, nein, nein!», schrie ich in die Nacht hinaus, als könnte das irgendetwas bewirken. Ich strampelte mich aus der Decke. Der Mast war noch da, zum Glück. Ich schaltete den Motor in den Leerlauf und horchte, ich horchte auf ein ganz bestimmtes Geräusch, und als es einsetzte, zerbrach in mir etwas wie bemaltes Porzellan, das am Boden zerschellt: das Bild eines Mannes, der dem Schicksal trotzt, der mutig seinen Weg geht. Hätte es einen sicheren Ort gegeben, ich hätte mich dorthin verkrochen. Aber es gab diesen Ort nicht. Ich war auf See. Ich war allein. Und ich hörte das Surren der elektrischen Pumpe, die am tiefsten Punkt des Schiffes stand und die mit unbarmherziger Gewissheit verkündete: Wir machten Wasser. Wie dieses Wasser im Schiff stieg, stieg in mir eine Angst. Sie war so gewaltig und erfüllte mich so vollständig, wie ich es bisher noch nie gefühlt hatte. Sie liess nur noch einen einzigen Gedanken zu: nicht sterben zu wollen.

Ich kletterte um das Ruder herum, beugte mich durch die Luke. Er stand am Fuss der Treppe und glotzte mich an. Dann sagte er mit bebender Stimme: «Wir sinken. Du musst dich retten!»

Ich rührte mich nicht. Ich war erstarrt. Mein Hirn war nicht mehr in der Lage, diese Erscheinung zu deuten. In meinem Kopf brauste die Pumpe wie ein Sturmwind.

«Du musst dich retten!», schrie er mich an, «rasch.»

«Rein da!», brüllte der Bettler und stiess mich rücklings über die Reling.

Der Bettler kletterte den Niedergang hoch, packte mich am Ärmel und zerrte mich zum Vorschiff. Dort war die Rettungsinsel verstaut. Er wuchtete den Kanister, in der sie sich befand, aus seiner Verankerung und warf ihn über Bord. Die Rettungsinsel war mit einer Leine am Boot gesichert. Sobald diese straff war, löste sie die Druckluft aus, die die Insel aufblies. Zunächst tauchte ein schwarzes Viereck aus dem Wasser auf, dann richtete sich das orangefarbene Zeltdach auf.

«Rein da!», brüllte der Bettler und stiess mich rücklings über die Reling. Ich landete auf dem Dach der Rettungsinsel, krallte mich daran fest und robbte zum Eingang. Als ich mich ins Innere fallen liess, spürte ich die Bewegungen der See. Es stank nach Plastik und Salz. Mir wurde augenblicklich schlecht und ich übergab mich auf den schwabbligen Boden. Ich hustete und würgte und suchte die Öffnung, durch die ich hereingekommen war. Die Leine, die die Rettungsinsel mit dem Boot verbunden hatte, war gekappt. Im schwachen Licht der Sterne sah ich den weissen Rumpf der Yacht wenige Meter entfernt. Während es sich im Innern der Rettungsinsel anfühlte, als würde ich über Wildwasser reiten, dümpelte die Yacht nur leicht in der ruhigen See. Sie schien mir jedoch nicht tiefer zu liegen als sonst. Es sah nicht danach aus, als drohte sie zu sinken. Hinter dem Steuer stand der Bettler. Er drehte sich zu mir um, winkte. Dann formte er seine Hände zu einem Trichter vor seinem Mund und ich hörte ihn rufen: «Vielen Dank. Und Gott segne Dich!»

Der Motor der Yacht kam auf Touren und sie entfernte sich langsam. Ich starrte ihr nach, konnte nicht begreifen, was geschehen war. Ich träumte. Ganz einfach. Ich träumte. Und würde gleich aufwachen und mich in der Ecke hinter dem Steuer wiederfinden. Aber ich wachte nicht auf, sondern kauerte in einer Mischung aus Seewasser und Erbrochenem in der Rettungsinsel und sah meinem Boot nach, wie es davonfuhr, hinein in die Dunkelheit. Als diese die helle Silhouette verschluckt hatte, tanzte für eine Weile noch das weisse Hecklicht wie ein verlorener Stern über der See. Dann erlosch auch das. War die Yacht gesunken? Ich weiss es nicht.

Irgendwann löste ich mich vom Eingang und begann meine Umgebung abzutasten. In der Rettungsinsel fand ich Wasser und ein paar Notvorräte. Die Bewegungen waren grässlich, ohne Rhythmus, und ich konnte nur auf dem Boden Hocken, der unter mir pulsierte. Und in meinem Kopf wiederholten sich wie in einer Endlosschlaufe die Bilder: vom Bettler, wie er mich in die Rettungsinsel gestossen hatte, vom Schiff, wie es davonfuhr. Das alles konnte doch nicht wirklich passiert sein. «Das ist unmöglich!» Ich hörte mich selbst, wie ich diesen Satz immer wieder und immer lauter vor mich hinsagte. Ich wusste nicht einmal, was wir gerammt hatten. Und war das Boot tatsächlich vollgelaufen? Warum nur hatte ich es so leichtfertig aufgegeben? Es gab für mich nur eine Erklärung: Ich musste meinen Verstand verloren haben. Ich war verrückt geworden. Aber wie könnte ich mir dessen bewusst sein, wenn es tatsächlich so war?

Wenigstens hatte ich Glück. Am nächsten Morgen wurde ich von einem Fischer gesichtet, der mich aufnahm. Er brachte mich zwei Tage später ins spanisches Vigo, an jene Küste, die ich hatte ansteuern wollte. Ich besass nur mehr die Kleider, die ich am Leibe trug und was mir der Fischer zusätzlich überlassen hatte, ein Paar ausgelatschte Mokassins, eine braune Cordhose, ein karriertes Hemd, das mir etwas zu gross war. An Land angekommen, gab er mir einige Geldscheine, mit denen ich solange überleben konnte, bis ich mir neue Papiere beschafft hätte. Hätten wir mehr Zeit miteinander verbracht, wir wären vielleicht Freunde geworden. Aber ich war jetzt ein Schiffbrüchiger, ohne Zuhause, ohne Sinn und Zweck im Leben. Er war ein Fischer und musste zurück aufs Meer.

Nach ein paar Tagen des Herumstreichens machte ich mich auf nach Lissabon. Dort überredete ich den Kapitän des Versorgungsschiffes, das nach Ponta Delgada fuhr, mich mitzunehmen. Ich gab ihm dafür mein letztes Geld. Die Reise dauerte zwei Tage und verlief ohne Zwischenfälle. Aber ich verbrachte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang an Deck und suchte den Horizont nach meinem Boot ab. Nachts stand ich auf der Brücke, den Blick auf das Radargerät geheftet, in der Hoffnung, der kreisende Lichtstreif würde ein Echo auf dem schwarzen Bildschirm anzeigen, das mein Schiff wäre. Vergebens.

Ich wollte den Bettler treffen, wollte seine Geschichte hören.

Ich war nur aus einem Grund nach Ponta Delgada zurückgekehrt. Ich wollte den Bettler treffen, wollte ihn zur Rede stellen. Das eine Wort wollte ich zur Not aus ihm herausprügeln. Er sollte es endlich aussprechen, das Schimpfwort, mit dem er mich damals hatte belegen wollen. Aber er war verschwunden. Ich suchte tagelang die Stadt nach ihm ab. Als ich die Einheimischen nach ihm fragte, reagierten sie merkwürdig, schüttelten die Köpfe und wandten sich rasch von mir ab. Schliesslich hielt ich einen Priester auf den Stufen zur Kathedrale auf. Ich beschrieb ihm den Mann, seine Haare, den Bart, die Kleidung.

«Es tut mir leid, mein Sohn», sagte er, «eine solche Person habe ich hier noch nie gesehen und ich kümmere mich schon viele Jahre um die Seelen der Menschen in Ponta Delgada.» Dann sah er mich von oben bis unten an und fragte: «Ist es dein Bruder, den du suchst?» 

Ich schüttelte heftig den Kopf. «Nein, nein, nicht meinen Bruder, einen Bettler.»

Ich bat den Priester, noch einmal genau nachzudenken. Aber er hob nur abwehrend die Hand. Als er gehen wollte, hielt ich ihn am Ärmel seiner Kutte fest. Er riss sich los und sagte energisch: «Ich kann Ihnen nicht helfen. Diesen Bettler gibt es nicht in Ponta Delgada, und es hat ihn auch nie gegeben!»

Ich blieb auf den Stufen der Kathedrale stehen. Ich weiss nicht, wie lange ich dort verharrte. Mein Kopf brachte keinen Gedanken mehr zustande, ich sah und hörte nichts mehr. Irgendwann drang die Umgebung wieder zu mir durch und ich nahm die Menschen im Café gegenüber wahr, die ihre Tassen zu den Lippen hoben und Gespräche führten. Ich sah die Passanten vorbeigehen, hörte, wie sie miteinander redeten. Auf einer Bank sass ein junges Pärchen und hielt Hände. Niemand aber sah mich, niemand blickte zu mir hin. Es war, als sei ich gar nicht da, als würden mich die andern übersehen, wie man etwas übersieht, für das es keine Bezeichnung gibt. Ich war zu einem Phantom geworden, weil ein Bettler ein Schimpfwort nicht hatte aussprechen wollen.

Sie lachen. Nun ja. Ich verstehe es. Vielen Dank auf jeden Fall für den Kaffee. Ich muss jetzt weiter, ich brauche noch etwas Geld. Wie ich heisse? Nennen Sie mich einfach Jim.

Kategorie: Martime Kurzgeschichten

von

Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

1 Kommentare

  1. Romina sagt

    Also ich wurde genau von diesem Bettler die letzten Tage in Ponta Delgada fast schon belästigt. Durch meine Recherchen bin ich auf diese Geschichte gestoßen. Unheimlich.

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