Martime Kurzgeschichten
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Begegnung im Nebel

Nebel auf See.

Es war der 16. Juli. A Coruña feierte die Virgen del Carmen. Und wie es der Schutzpatronin der Seeleute geziemt, kam sie samt Kind auf dem Arm auf einem Fischerboot angefahren. Unter dem Lärm von Dudelsäcken und Trommeln wurde sie an Land gesetzt. Dann hoben kräftige Männer in blauen Hemden die Statue auf ihre Schultern und trugen sie, begleitet von der Menge, in die Innenstadt. Der Platz, der das Hafenbecken umschloss, leerte sich. Der Lärm verebbte.

Ob die Virgen del Carmen auch für Segler, also für einen wie ihn, zuständig war, überlegte Jonas, als er in Richtung des Gatters schlenderte, das den Zugang zu den Yachten versperrte. Die Fischer und Matrosen, auf deren Schultern die Jungfrau geritten war, hätten wohl etwas dagegen. Wäre ja noch schöner, wenn sich ihre Jungfrau um Leute kümmern müsste, die zum Vergnügen rausfahren, während sie doch, die Arbeiter des Meeres, sich für ihren Lebensunterhalt dem Element aussetzten. Sie war sozusagen ihre Unfallversicherung. Doch Jonas war er ohnehin nicht religiös. Er vertraute lieber der Technik und guten Wettervorhersagen. Diese hatten ihn und seine Segelyacht von England bis nach Spanien gebracht. Sie würden ihn auch wieder zurückbringen. Schon morgen würde er ablegen, denn die Prognosen standen günstig

Jonas würde alleine segeln. Ein Freund, der ihn hatte begleiten wollen, hatte im letzten Moment abgesagt. Macht nichts, dachte er. Die drei, vielleicht vier Tage – solange würde die Reise über die Biskaya, den Golf zwischen der spanischen Nordküste und der französischen Atlantikküste dauern – wären auch allein zu schaffen. Ein wenig Schlafmangel vielleicht. Aber das brachte einen ja nicht um.

Vor der Reise wollte er noch einmal richtig schlafen und vor allem gut essen. Hinter den prunkvollen Häusern, die dem Platz zugewandt waren, entspann sich das Netz der verwinkelten Gassen der Altstadt. Dort reihte sich eine Tapasbar an die andere.

Jonas stand am Tor, hinter dem der Steg zu den Booten hinabführte, als eine Yacht um die Ecke der Hafeneinfahrt bog. Ihr Bug warf eine beachtliche Welle auf. Das Grossegel war noch gesetzt. Was für ein Leichtsinn, dache Jonas. Im selben Augenblick wurde ihm bewusst, dass nur noch neben seinem Boot ein Platz frei war. Dieser Verrückte musste ganz einfach dort anlegen. Ausgerechnet. Hastig tippte Jonas die Zahlenkombination ins Schloss ein. Mit einem Klick sprang das Tor auf und Jonas hastete den Steg hinunter. Er kam gerade noch rechtzeitig, bevor die Yacht, ohne auch nur ein wenig abgebremst zu haben, in die Box einbog. Der Motor heulte auf, als der andere endlich den Rückwärtsgang einwarf. Viel zu spät. Die Yacht knallte gegen den Steg. Die Wucht des Aufpralls liess die Bretter erbeben. Beinahe hätte es Jonas umgeworfen. Er griff nach einer Leine, die am Bug hing, um das Boot zu sichern. Mit einer zweiten müsste er es  seitlich am Ponton festmachen. „Eine Leine!“, schrie er dem Skipper zu. Dieser glotzte ihn jedoch an, als sei Jonas ein Gespenst.

„Eine Leine!“, rief Jonas erneut. Endlich kam der andere zu sich, griff nach einem Tau und reichte es Jonas.

Als er sicher war, dass die Yacht des Fremden der seinen keinen Schaden mehr zufügen konnte, entfernte sich Jonas. Solosegler hatten zuweilen einen Knacks. Aber ein Verrückter wie der war Jonas noch nie begegnet. Ein Wunder, dass es so einer überhaupt von Hafen zu Hafen schaffte, dachte er, als er auf sein Schiff zurückgekehrt war und sich sich auf der Bank im Salon ausstreckte.

Nach einer Weile schlief Jonas ein. Er träumte. Wirres Zeug. Von der Jungfrau, die aus dem Meer auftauchte. Doch anstatt ein mildes Lächeln lag etwas Verschmitztes in ihrem Gesicht. Zudem fehlte das Baby in ihren Armen. Sie erinnerte ihn an eine Freundin, mit der er eine Zeit lang liiert gewesen war. „Das Meer ist nichts für kleine Jungs“, sagte sie im Traum, und Jonas kam sich tatsächlich sehr klein vor. Trotzig stand er am Steuer. Gerade wollte er der frechen Jungfrau etwas entgegnen, da klopfte es. Als Jonas die Augen aufschlug, war es schon dämmrig.  Auf dem Ponton stand sein neuer Nachbar. Mit einem Lächeln hob er eine Flasche Wein in die Höhe. „Ich wollte mich entschuldigen“, sagte er, „du musst mich für ziemlich irre halten.“

Jonas kletterte ins Cockpit und besah sich den Mann aus der Nähe. Er mochte um die 50 sein, war schlank, trug ein verwaschnes, blaues T-Shirt und Jeans. Das graue Haar klebte in nassen Strähnen am Kopf. Er hatte wohl eben geduscht. Sein Kopf schien in letzter Zeit viel Sonne abbekommen zu haben. Trotzdem wirkte das Gesicht eingefallen, erschöpft. Die dunklen Augen blickten unsicher. Fürchtet wohl, dass ich ihn tatsächlich für verrück erkläre, dachte Jonas.

„Komm rüber“, sagte er stattdessen mit einer versöhnlichen Geste. Der Fremde stieg an Deck und trat zu ihm in den Steuerstand.

„Mein Name ist François. Das hier ist für den Schrecken, den ich dir eingejagt habe.“ Er hielt Jonas die Flasche entgegen.

„Schon okay. Wir sollten sie zusammen trinken.“

Jonas holte zwei Gläser und einen Korkenzieher aus der Kajüte, öffnete die Flasche und schenkte ein.

„Französisch“, bemerkte er, als das Etikett betrachtete.

„Ja, ich komme aus der Bretagne. Bin vor drei Tagen in Lorient aufgebrochen.“ Anstatt weiterzusprechen, setzte er das Glas an und nahm einen tiefen Schluck.

„Ich segle morgen. Falmouth“, entgegnete Jonas. François schaute ihn an, als hätte er gerade gesagt, er würde von einer Klippe springen.

„Was ist los?“, fragte Jonas. Der andere schüttelte den Kopf. Es sah wenig überzeugend aus.

„Na sag schon. Ist was passiert?“

„Ich weiss nicht. Ich kann es selbst kaum glauben. Wenn ich dir erzähle, was ich erlebt habe, wirst du mich ganz bestimmt für wahnsinnig halten.“

Jonas brummte etwas, das wie ein Nein klingen sollte, obwohl ihm das Ganze etwas zu dramatisch klang. Zumindest könnte er aber eine gute Geschichte zu hören bekommen. Sie brauchte ja nicht wahr zu sein.

François nahm noch einen Schluck. Jonas goss nach.

„Also komm schon. Was hast du da draussen erlebt?“

François blickte ihn einen Augenblick lang stumm an, als prüfte er sein Gegenüber. Jonas riss sich zusammen, blickte ebenfalls ernst.

„Wie gesagt, bin ich vor drei Tagen ausgelaufen. Der Wetterbericht verhiess perfekte Verhältnisse. Als ich schon in der Rade von Lorient das Tuch setzte und das Boot an den alten Festungsmauern von Port Louis vorbei rauschte, ging mir das Herz auf. Die Île de Groix liess ich wie im Fluge hinter mir und bald war nur noch offenes Wasser um mich herum.“

François holte Atem und blickte an Jonas vorbei, als würde er an etwas zurückdenken, das lange, lange her war.

„Ich fand rasch in die übliche Routine und als ich über den Kontinentalschelf hinaus war, das Echolot aufhörte die Tiefe anzuzeigen und ich wusste, dass es unter mir 4000 Meter in die Tiefe ging, erfasste mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich habe mich auf dem Meer immer zuhause gefühlt. Wenn ich weit draussen war, war es, als wäre die übrige Welt nicht nur hinter dem Horizont verschwunden, sondern vollständig. Weisst du: Als wäre man allein. Was an Land noch bedeutend zu sein schien, war nun nichtig. Es gibt nur noch dich, das Boot, das Meer, das Wetter. Alles was zählt, sind diese vier Elemente, und du spürst, dass du am Leben bist, weil es auf nichts anderes ankommt, als auf das, was du tust.“

Jonas verstand, was François sagte. Auch auf ihn hatte die See diese Wirkung. Wahrscheinlich empfand jeder Segler so. Oftmals war es, dass er nur den Fuss auf das Boot zu setzen brauchte, um den Alltagskram zu vergessen.

François erzählte weiter: „Es begann am zweiten Tag. Ich hatte schon die halbe Strecke zwischen Lorient und A Coruña geschafft, als der Wind einschlief. Das war merkwürdig, denn die Voraussagen hatten das nicht prognostiziert. Ich hatte zwar genug Diesel, um die restliche Strecke auch unter Maschine zu bewältigen. Aber ich glaubte, es handelte sich nur eine vorübergehende Flaute. Ich wollte mich hinlegen und einfach abwarten. Das Vorsegel holte ich ein. Das Grosssegel liess ich stehen. Unter mir rollte die Dünung, als würde ein riesiger Körper ein- und ausatmen. Blickte ich hinab in die Tiefe, so verlief sich das Blau der oberen Wasserschichten in bodenloses Tintenschwarz. Alles war friedlich, endlos weit. In solchen Momenten denkt man, das Universum zu begreifen und sich als Teil davon. Ich sage dir: ein riesiger Irrtum.

Nach einer Weile zog Nebel auf. Er umschloss das Schiff wie eine Mauer aus weissem Stoff. Über der Mastspitze konnte ich zwar noch die Sonne und blauen Himmel sehen. Doch um mich herum war dichtes Weiss. Schlagartig war die Stimmung eine andere. Nebel auf See. Ich glaube, es gibt nichts Gespenstischeres.“

François hielt inne. Nahm das Glas in die Hand, stellte es wieder hin.

„Und was dann erschien, wirkte zunächst tatsächlich geiterhaft. Plötzlich hob sich neben dem Boot etwas Schwarzes, Glänzendes aus der See, das ich zunächst für eine Spiegelung hielt. Es war der Rücken eines Wals. Nach und nach tauchte er auf, bis ich seine ganze Länge abschätzen konnte. Allein sein Kopf hatte die Masse des Boots, das mir neben diesem Giganten plötzlich lächerlich klein vorkam.

Ich habe schon oft Wale gesehen. Aber noch nie war mir einer so nah gekommen. Ich stand an Deck und wagte kaum zu Atmen. Warum war er aufgetaucht? Wollte er mich in Augenschein nehmen? Ich sah, wie er leicht zur Seite rollte und mich tatsächlich anblickte. Er sah mir direkt in die Augen, ich in das seine. Ein schwarzes, unergründliches Auge, von runzligen Liedern umfasst. Wenn du einem Hund oder einer Katze in die Augen schaust, erblickst du etwas Bekanntes, einen Ausdruck, den du einschätzen kannst. Bei diesem Wal war das anders, vielleicht weil wir doch nicht dieselbe Welt teilen, er im Grunde für mit ein Ausserirdischer war. Und was sah dieses Auge in mir? Hatte er im Rumpf des Bootes einen Artgenosse vermutet? Oder begriff er, dass da etwas auf seinem Meer schwamm, das aus einer völlig anderen Sphäre stammte? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass da, im Bruchteil einer Sekunde, ein Zucken durch dieses Auge ging. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber es war, als hätte der Wal einen Gedanken gefasst.

So geräuschlos wie er aufgetaucht war, tauchte er wieder ab. Das Meer schloss sich einfach über seinem Rücken. Dann geschah erst einmal gar nichts. Ich vermutete, der Wal hätte seine Neugierde gestillt und habe sich wieder der Nahrungssuche zugewandt, oder was Wale eben so tun. Aber er war noch da. Ich merkte zunächst kaum, wie sich das Schiff zu drehen begann. Es hatte keinen Stoss gegeben, kein Rucken. Die Bewegung hatte eingesetzt, so, als ob ein ganz leichter Windhauch das Boot erfasst hätte. Nur, dass es sich nicht vorwärts, sondern um seine eigen Achse bewegte, als wäre es in einen Strudel geraten. Aber das Meer war flach wie ein Pfannkuchen. Und woher hätte so ein Strudel mitten auf dem Ozean bei 4000 Metern Tiefe auch kommen sollen? Als ich über die Seite blickte, sah ich ihn, den riesigen Körper des Wals, wie er sich an den Rumpf schmiegte, wie an ein Kissen. Seine Seitenflosse, die wohl die Grösse meines Segels hatte, bewegte sich langsam auf und ab. So schob der Wal uns im Kreis. Ich weiss nicht, wie er das machte, oder warum er das machte. Er tat es einfach, wie man einen Bleistift auf der Tischplatte dreht. Ich zählte vielleicht drei oder vier Umdrehungen. Dann endete der Spuk. Das Schiff schlingerte noch ein wenig, als der Wal sich von der Seite löste. Der Baum schlug ein paar Mal hin und her, das Segel flappte. Als sich alles beruhigt hatte, war es wieder so still wie zuvor. Nur die Dünung hob und senkte das Boot.

Ich schaute mich um. Weit konnte ich allerdings nicht sehen. Noch immer hielt uns der Nebel umschlossen. Was sollte ich tun? Warten? Den Motor starten? Der Anlasser befindet sich unter dem Niedergang. Gerade als ich hinabgestiegen war und den Schlüssel drehen wollte, gab es einen Stoss gegen die Steuerbordseite, der mich beinahe umwarf. Dann nahm das Schiff fahrt auf. Wiederum nicht geradeaus, sondern diesmal zur Seite. Wir wurden immer schneller. Das Schiff begann stark zu krängen. Ich kletterte wie ein Käfer den Niedergang hoch. Die Reling war schon untergetaucht und Wasser schnappte ins Cockpit. Ich hatte Angst, panische Angst. Ich sah den Wal quer zum Schiff. Nun presste er den Kopf gegen den Kiel. Ihm schien es keinerlei Anstrengung abzuverlangen. Seine Schwanzflosse bewegte sich, wie soll ich sagen, gravitätisch. Und doch rasten wir in höllischem Tempo seitwärts.

‚Hör auf! Hör auf! Du versenkst uns!‘, schrie ich ihm zu. Der Wal schob weiter. Immer mehr Wasser schwappte über. Würde es die Kabine fluten, wäre es um uns geschehen. Das Wasser stand in der Pflicht schon knietief. Gleich würde es die Schwelle zum Niedergang erreichen. In diesem Augenblick liess der Wal von uns ab. Das Boot richtete sich ruckartig auf. Ich fiel hin, platschte in das gefüllte Cockpit wie in eine Badewanne. Ich rappelte mich auf, so schnell ich konnte, stürzte den Niedergang hinunter und startete den Motor. Mit Vollgas fuhr ich los, ohne auf einen Kurs zu achten. Ich wollte einfach weg. Ich begriff nicht, dass es keine Fluchtmöglichkeit gab. Um dem Wal zu entkommen, hätte ich fliegen müssen, hätte das Boot sich aus dem Wasser heben müssen. Ich sah ihn im letzten Moment Steuerbord querab. Er kam geradewegs auf uns zugeschossen, so als hätte er den Punkt des Aufpralls genau berechnet. Ich warf das Ruder herum, um ihm auszuweichen. Knapp hinter dem Heck tauchte er. Aber er kam nicht etwa vor dem Bug, wo ihn erwartet hätte, hoch. Vielmehr erschien er plötzlich auf der andere Seite und schwamm erneut auf uns zu. Diesmal wich ich in die andere Richtung aus. Ich habe nicht gezählt, wie oft er das mit mir machte. Ich war wie ein Schaf, das von einem Hirtenhund hin und her getrieben wurde.“

Aha, dachte Jonas, daher weht der Wind. Er hatte die Geschichte von einem angreifenden Wal kürzlich in einem Seglermagazin gelesen. Genau wie es François beschrieb, war der Wal auf die Yacht zugeschossen und kurz vor dem Zusammenstoss untergetaucht. Auch dieser Wal hatte mehrere Scheinangriffe durchgeführt, bevor er den Segler hatte ziehen lassen. Einfach das mit dem Kreisen und dem Seitwärtschieben hatte der andere Wal unterlassen. Ein neuer Moby Dick, ging es Jonas durch den Kopf. „Bist du sicher, dass dein Leviathan nicht weiss gewesen ist?“, fragte er und lächelte süsslich.

Jonas hätte erwartet, dass der andere auf seinen Spott reagierte, wenigstens ein bisschen beleidigt tat. Aber François verzog keine Miene, sondern sprach weiter: „Als auch das aufhörte, kuppelte ich den Motor aus. Ich liess mich auf die Bank fallen und heulte. Ich heulte wie ein kleines Kind, dass man in einen finsteren Keller gesperrt hatte und das sich vor Angst in die Hosen macht. Ich verstand, dass ich komplett ausgesetzt war, hilflos einem Wesen ausgeliefert, von dem ich nicht einmal wusste, ob es verstand, was es tat, welchen Antrieb es haben mochte, mit mir und dem Schiff das zu tun. Was wissen wir schon über das Meer und seine Bewohner. Wir plündern es, verschmutzen es. Viel schlimmer noch, wir glauben, wir besitzen es. Aber wir haben keine Ahnung.“

François machte eine Pause, leerte sein Glas. Jonas glaubte, das sei nun das Ende der Erzählung  gewesen. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, fuhr François fort: „Als Wind aufkam, löste sich der Nebel auf, gab die Sicht frei über diese unendliche wogende Fläche, die nun leicht gekräuselt war und grau-blau schimmerte. Ich bekam mich langsam wieder in Griff, kuppelte den Motor ein. Das Boot nahm Fahrt auf. Ich blickte nach allen Seiten. Vom Wal war nichts zu sehen. Ich ging auf Marschfahrt, fünfeinhalb Knoten. Vermutlich Schneckentempo für einen Wal. Aber was sollte ich sonst tun? Ich war wieder auf Kurs zur spanischen Küste gegangen. Noch 150 Meilen, eineinhalb Tage. Ich würde es schaffen, dachte ich, fasste Mut. Als es dämmerte und die Sonne langsam dem Horizont entgegen sank, sah ich ihn wieder. Zuerst war da nur seine Wasserfontäne, als sei etwa Grosses aus riesiger Höhe ins Wasser geklatscht. Aber ich wusste: Er war es. Er kam von vorn, hatte uns also locker überholt. Er schwamm direkt auf das Schiff zu. Diesmal wich ich nicht aus. Alle Hoffnung, die ich gefasst hatte, war gewichen. Als habe ein Abgrund sich aufgetan, in den ich unweigerlich stürzen würde, egal was ich tat, steuerte ich geradeaus. Ich schloss die Augen und wartete auf den Aufprall, darauf, dass das Schiff abrupt stoppte, der Mast brach, Wasser eindrang. Aber nichts dergleichen passierte. Eine ganze Weile nichts. Ich öffnete die Augen wieder. Er hatte mich erneut verschont, dachte ich. Es ist vornüber, dachte ich. Doch dann schoss er keinen Steinwurf neben dem Boot aus dem Wasser, fast das ganze Tier, ein riesiger, gebeugter, grau-schwarzer Körper stieg aus dem Meer auf. Vielleicht bildete ich mir auch das bloss ein. Aber ich glaube, er schaute auf mich herab, wie ich kümmerlich an meinem Steuer stand und es festhielt, als könne es mich vor dem Schicksal bewahren. Als der Wal aufs Wasser prallte, schlug das Wasser übers ganze Boot. Dann war er weg.

Die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag erwartete ich, dass er zurückkommen würde, um mich endgültig fertig zu machen, wie eine Katze am Ende die Maus doch tötet, mit der sie gespielt hat. Aber er kam nicht mehr. Ich stand am Steuer wie angeleimt. So brachte ich das Schiff her. 150 Meilen ohne Müdigkeit, Durst oder Hunger zu verspüren. Alles war in dieser bodenlosen Angst versunken, die nicht mehr nur ein Gefühl war, sondern mich ausfüllte, als sei ich ein Glas in das man eine schwarze Flüssigkeit gefüllt hätte. Und sie ist immer noch da.“

François atmete schwer ein und wieder aus und blickte Jonas mit seinen dunklen Augen direkt an.

„Ich habe es hierher geschafft. Danke, dass du mir geholfen hast. Weiter weiss ich jetzt nicht. Ich weiss nicht, ob ich mich je wieder da raus traue.“

Jonas musste zugeben: die Geschichte war packend erzählt. Zu glauben war sie dennoch kaum. Wer hatte denn schon je von so etwas gehört. Entweder François hatte eine blühende Phantasie, oder er war doch etwas verrückt.

Jonas goss den Rest des Weins in die Gläser und hob an. Beinahe hätte er einen Toast auf den Wal ausgebracht. Aber er liess es bleiben. Es wäre vielleicht doch etwas des Spottes zu viel gewesen. Stumm tranken sie die letzten Schlucke. Dann stand der andere auf und nickte Jonas zu. „Pass auf dich auf“, sagte er und stieg von Bord.

„Das werde ich“, rief ihm Jonas hinterher.

Etwas später streifte Jonas durch die Gassen der Altstadt von A Coruña . Die Menschen waren immer noch in Festtagsstimmung. Alle waren auf den Beinen. Er fand ein freies Tischchen in einer Tapasbar. Dort sass er, eingeklemmt zwischen lauten, herausgeputzten Spaniern, trank Wein und ass die Häppchen, die man ihm brachte. Vornehmlich war es Tintenfische, den die rundliche Wirtin in ihrem viel zu engen, schwarzen Kleid vor ihn hinstellte. Jeden Teller kommentierte sie nüchtern, als würde sie eine Bahnhofsansage machen: „Pulpo a la gallega, Chipriones a la plancha, Calamares frittas.“ Pottwal-Nahrung schoss es Jonas durch den Kopf. Doch er verbannte den Gedanken gleich wieder aus seinem Hirn.

Am folgenden Morgen fiel es ihm nicht leicht, aus der Koje zu kriechen. Es war wohl doch etwas viel Wein gewesen. Aber die Seeluft würde ihn kurieren. Er schaute zum Mast hoch. Das spanische Fähnchen, dass er aus Respekt vor dem Gastland gesetzt hatte, flatterte munter im Wind. Er stand günstig. Jonas wollte keine Zeit verlieren. Ob er sich bei seinem Nachbar verabschieden sollte? Er liess es bleiben. Er hatte keine Lust auf bedeutungsschwerere Abschiedsworte. In spätestens vier Tagen wäre er in England, in weiteren zwei wieder zuhause, im Alltag, im Beruf, beschäftigt mit Problemen, die eigentlich gar nicht seine waren. Er wollte diesen Trip geniessen.

Als er die Leinen löste, schienen sich auf dem Nachbarschiff die Vorhänge etwas zu bewegen. Aber sonst rührte sich nichts. Jonas steuerte aus der Bucht von A Coruña hinaus, vorbei am Torre de Hercules, dem uralten Leuchtturm, der schon zu Zeiten der Römer den Seefahrern den Weg gewiesen hatte. Er fuhr durch den Tag mit konstantem Wind, durch die Nacht unter einem Himmel voller Sterne. Am folgenden Tag war er bereits über tiefem Wasser, als der Wind nachliess. Bald schon war es zu wenig zum Segeln. Jonas rollte das Vorsegel ein und startete den Motor. Schliesslich schlief der Wind vollständig ein und vor dem Bug breitete sich wie eine Sichel eine weisse Nebelwand aus, die ihn langsam umschloss. In diesem Augenblick dachte Jonas an die Virgen del Carmen und murmelte etwas, das wie ein Stossgebet klang.

2 Kommentare

  1. Thomas SV Carmina sagt

    Herrliche Geschichte, wunderbar widergegeben.. Ja die weiten Meere haben viele Geheimnisse, die sie uns nicht so einfach erklären. Trotzdem freue ich mich riesig auf meine Reise nach den Azoren. Und, sollte ich in voller Rauschefahrt gegen den Steg knallen, weiss ich ja jetzt, dass dort jemand mir hilft und ein gutes Glas Roten offeriert. See you…

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