Bijagos, Unterwegs-Blog
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Zu den Kapverden – oder die Erweiterung des Horizonts

Sonnenuntergang auf dem Atlantik, zwischen den Kanaren und den Kapverden.

Mit der Fahrt zu den Kapverden habe ich buchstäblich meinen Horizont erweitert. Ich bin über das südlichste Ende von Europa hinausgesegelt und in einer Welt angekommen, die Darwin als „komplett steriles Land“ beschrieb. Dazwischen lagen 156 Stunden – nicht ganz sieben Tage, dafür sieben Nächte – Meer, Wind, Delphine und mitunter Schwärme fliegender Fische, die über die Wellenkämme schossen wie silberne Pfeile (ein paar landeten auch auf dem Deck von Blue Alligator. Einzelne abgestreifte Schuppen liessen darauf schliessen, wie sich die Fische vergeblich mühten, wieder ins Wasser zu kommen. Als ich sie jeweils fand, waren sie hohläugig und trocken und ihre flügelgleichen Flossen klebten an den schmalen Körpern).

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Die Prognose verhiess nordwestlichen Wind, schwach zunächst, doch mit der Zeit zunehmend. Als Blue Alligator jedoch die Südspitze von El Hierro passierte, blies es aus Westen. Aus Westen? Das ist zu dieser Jahreszeit (Oktober) an diesem Ort (die Kanarischen Inseln) ungefähr so normal wie Schnee im Juli in der Schweiz. „Muss an der Insel liegen, die den Wind ablenkt“, dachte ich. „Wird schon anders, wenn wir erst weit genug im Süden sind“, räsonierte ich weiter voller Zuversicht. Aber Wind ist Wind. Und so nahm ich es, wie es kam, setzte die Segel und stellte den Motor ab. 

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Ich war unterwegs zu den Kapverden. Fast 800 Seemeilen lagen vor mir. Ich rechnete mit sieben oder acht Tagen auf See. Vor allem aber: Ich hatte eine Grenze überschritten. Vor über einem Jahr war ich von El Hierro, der südwestlichsten der Kanareninsel, umgedreht und wieder nach La Palma hochgefahren. Jetzt hatte ich den südlichsten Punkt Europas hinter mir gelassen. 

Vielleicht ist das typisch für mich: Ich erweitere meinen seglerischen Horizont nur schrittweise. Ich nehme mir zwar grosse Ziele vor – die Kapverden zum Beispiel, sogar die Karibik (welch Hybris!). Beim ersten Anlauf klappt es aber nicht. Dafür beim zweiten oder dritten, wobei es mir bestimmt geholfen hat, sozusagen auf einer Mission zu sein, die mich nach Guinea-Bissau führen soll.

Erinnerung an die Piroge

Ich bin auch nicht allein unterwegs. Vier andere Missions-Boote legten mehr oder weniger gleichzeitig in El Hierro ab. Manchmal höre ich meine portugiesischen Begleiter, die beiden Miguels von Ouf (das Boot mit dem Feijoada-Koch von den Selvagens) und dem Boot Lés-a-Lés, wie sie sich über Funk austauschen. Ich höre auch noch eine gute Weile Radio Restinga, die Funkstation von El Hierro. Sie verbreitet regelmässig Warnungen. Ein Flüchtlingsboot mit 200 Personen an Bord sei im Seegebiet südöstlich von El Hierro unterwegs. 200 Personen! Ich stelle mir die Piroge vor, die ich im Hafen mit all den zurückgelassenen Habseligkeiten gesehen habe. 200 Personen auf einem etwas 20 Meter langen, offenen Boot. Was für eine Vorstellung! 

Ich laufe allerdings einen südwestlichen Kurs, weg von den Flüchtlingen auf ihren Booten, weg vom afrikanischen Festland. 

Es ist angenehmes Segeln und Blue Alligator, meine Victoria 34, benimmt sich wie ein braves Pferd, das, gemächlich zwar, aber stetig voran trottet. Mit ihrem breiten Bug schiebt sie die nicht allzu hohen Wellen beiseite und zieht ein blubberndes Kielwasser hinter sich her. Das Meer ist von einem tiefen, dunklen Blau, nur wenige weisse Kämme krönen die Wellen. Über uns spannt sich der Himmel fast wolkenlos. Während des Tages wechsle ich meinen Sitzplatz mit dem Sonnenstand, um im Schatten unter dem Bimini zu bleiben, das schmale Verdeck über dem Steuerstand. 

Sonnenauf- und untergänge

Der Sonnenuntergang ist atemberaubend. Wie die meisten kommenden Sonnenuntergänge es ebenfalls sein werden. Und auch die Sonnenaufgänge, die sich glücklicherweise nicht vor acht Uhr früh Bordzeit ereignen, so dass ich sie nicht verschlafe. Ich mache es mir zur Gewohnheit, jeweils ein Bild am Abend und eines am Morgen zu machen. So entsteht nach und nach ein kleines Album mit Bildern in leuchtenden Rottönen. 

Der Mond ist anfangs nur eine schmale Sichel und lässt die Sterne tausendfach leuchten. Ich denke an die Satelliten, die Elon Musk ins All schiesst und die ich auf Santa Maria als eine Art Perlenkette über den Nachthimmel ziehen sah. Wie viele der Lichtpunkte mögen tatsächlich Sterne sein, wie viele Satelliten, die Signale auffangen und weiterleiten? Fernsehsendungen, Geodaten, Spionagebilder. Unter anderem vermitteln sie mir auch meine Position. Dafür zumindest sei ihnen gedankt.

Der folgende Tag beginnt windstill. Die Prognose meinte zwar etwas anderes. Aber der Macht des Faktischen entkommt man beim Segeln nicht. Motor an. Genua einrollen. Tucker, tucker, tucker.

Am Ende werde ich 156 Stunden unterwegs gewesen sein. 51 davon unter Motor. 

Der Wind kam irgendwann einmal tatsächlich aus Nord-Nordost, legte zwischendurch auf über 20 Knoten zu und zwang mich zu allen möglichen Segelstellungen. An den Tagen mit konstant unter 10 Knoten (es gab davon zwei) packte ich den Gennaker aus. Das ist ein grosses, leichtes Segel, das man gut auf Kursen fahren kann, bei denen der Wind schräg von hinten einfällt. 

Das Segel aus der Socke

Ich habe den Gennaker bisher sehr, sehr selten benutzt, weil er mir zu kompliziert erschien und zu gefährlich, um allein damit zu hantieren. Er ist zwar in einem langen Schlauch verpackt, so dass man das Segel zunächst als eine Art Riesenwurst hochziehen kann. Wenn die Wurst gesetzt ist, zieht man die Socke oder den Schlauch mit einer Leine hoch und das Segel entfaltet sich. In meinem Fall als knallrotes Dreieck mit weissem Sternenmuster. 

Der Gennaker von Blue Alligator, ein rotes Dreiecksegel mit Sternmuster.

Zwar ist man als Einhandsegler immer eine Person zu wenig bei solchen Manövern, weil man einerseits das Segel setzen muss, andererseits hinten im Cockpit steuern und die Schoten bedienen sollte. Aber ich brachte das Segel doch irgendwie hoch, ohne dass es mich über Bord katapultierte, und war schnell genug wieder hinten, um die knallenden Leinen zu bändigen. 

Mit seinem roten Leichtwindsegel legte Blue Alligator ziemlich an Tempo zu. Nur war jetzt der Druck etwas zu gross für die Windsteueranlage, weshalb der elektrische Autopilot übernehmen musste.

Autopilot im Todeskampf

Blue Alligator besitzt einen sogenannten Radpiloten von Raymarine (eine der dominierenden Hersteller für Schiffselektronik). Dieser sitzt, wie der Name sagt, als Rad hinter dem eigentlichen Steuer und dreht dieses entsprechend dem Kurs mal nach Steuerbord, mal nach Backbord. Ein zwar cleveres System, nur leider nicht ganz geräuschlos. Man könnte auch sagen: etwas laut. Tatsächlich quietscht und knarrt der Autopilot bei jeder Drehung wie ein Schwein, das zum Schlachter geführt wird. Nervtötend. Sollte je an Bord einer Yacht eine Folterung stattfinden müssen (welch absurder Gedanke!), es würde reichen, einen Radpiloten von Raymarine einzusetzen. Nervenzusammenbruch und Geständnisse wären garantiert.

Es stellte sich denn auch eine gewisse Erleichterung ein, als der Wind an Stärke zulegte, ich den Gennaker bergen musste und der Windpilot, dieses Wunderwerk an Einfallsreichtum und Tüftelei, wieder die Kontrolle übers Schiff übernahm. Seine Leinen knarren zwar ebenfalls. Aber das ist kein Vergleich zu den Äusserungen des elektrischen Piloten, der ständig im Todeskampf zu liegen scheint.

Katzenbaby auf den Azoren

Von Zuhause erreicht mich am vierten Tag der Reise die Nachricht, dass Katrin ein Kätzchen gerettet habe. Sie sei vielleicht zwei Monate alt, schrieb sie mir in einer kurzen SMS über Iridium (auch dafür Dank an die Satelliten). Es wäre das ideale Alter, um sie an das Bordleben zu gewöhnen. Aber ich bin auf See, die Azoren weit weg und Beamen noch nicht erfunden. 

Ich fühle mich jedoch gar nicht besonders einsam, zeige nur die normalen Auffälligkeiten von Soloseglern. Ich spreche mit den Delefinen, die uns ab und an besuchen, und tituliere das Schiff auch mal als Schätzchen, wenn ich es sanft tadle, weil es gerade nicht das tut, was ich gerne hätte (meist ist ohnehin der Windpilot schuld, der zu langsam auf einen heftigen Winddreher oder eine starke Böe reagiert. Ihn nenne ich jedoch nicht Schätzchen). Nichts Besorgniserregendes also. 

Ich nehme mir auch Katrins Ermahnung zu Herzen, regelmässig zu essen. Allerdings koche ich eher lustlos, mache es mir so einfach wie möglich: Kartoffeln mit Chorrizo und Zuchetti, alles zusammen in einer Pfanne angebraten. Oder schlicht ein griechischer Salat, bei dem allerdings die Oliven fehlen. Ich habe zwar Oliven an Bord. Ich fürchte jedoch, das Glas ist ganz zuunterst in der grossen Vorratskiste neben der Spüle versteckt. Um es auszugraben, müsste ich die ganze Truhe ausräumen. Zu viel Mühe für ein kleines bisschen zusätzlichen Genuss. 

Blue Alligator tanzt auf den Wellen

Ich geniesse viel lieber die Aussicht aufs Meer, das sich ständig verändert und manchmal richtige Wellenberge heranschiebt, die unter Blue Alligator durchrollen, ihr Heck anheben und sie dann, bugvoran, ins Tal sausen lassen. Victorias wie Blue Alligator sind zwar keine Langkieler, Boote also deren Kiel sich von Bug bis Heck erstreckt. Das Unterwasserschiff weist einen nicht allzu tiefen, etwas verkürzten Kiel auf, der gegen achtern über eine Art Einbuchtung ins Ruderblatt übergeht. Aber sie läuft äusserst kursgenau, lässt sich von den Wellen nicht so leicht aus der Bahn drücken (ausser eben der Windpilot dirigiert sie falsch, was er aber nur in Ausnahmefällen tut).

Diese Eigenschaften lassen mich gut schlafen. In den ersten Nächten stehe ich noch stündlich auf, um den Horizont abzusuchen. Man weiss ja nie, wohin sich Flüchtlingsboote verirren. Je länger die Reise dauert, desto länger schlafe ich, in der vorletzten Nacht fast durchgehend. 

In der letzten Nacht finde ich jedoch fast keinen Schlaf. Der Wind spielt verrückt, frischt manchmal auf über 20 Knoten auf, um wenig später wieder auf unter 10 Knoten zu fallen. Die See hat sich aufgetürmt zu steilen und kurzen Wellen, die zudem aus allen Richtungen zu kommen scheinen. Blue Alligator tanzt zwar auf ihnen auf und ab, lässt sich aber auch davon nicht sonderlich beeindrucken. Aber ich habe ständig mit den Segeln zu tun. Ich reffe das Grosssegel und die Genua ein. So sind wir auf das Schlimmste vorbereitet. Es kommt zusammen mit Regengüssen, und weil der Wind von Hinten einfällt, regnet es auch gleich ins Schiff rein. Ich könnte die Bretter vor dem Niedergang einsetzen. Aber die wären mir im Weg, wenn ich rasch ins Cockpit müsste. Klügere Segler als ich haben für solche Fälle Plachen angefertigt, die sie vor den Niedergang hängen. Klügere Segler eben.

„Ein steriles Land“

Doch auch diese Nacht geht vorbei und am Morgen flaut der Wind ab. Die Wellen bleiben. Voraus zeichnen sich Schatten am Horizont ab, die langsam zu Inseln heranwachsen. Die Kapverden – oder wenigstens Teile davon. Mindelo, mein Zielhafen, liegt im Westen der Insel São Vicente in einer geschützten Bucht. Davor ragen Berge in Grau- und Brauntönen auf, kahl, sandig, schroff. Darwin hat die Kapverden, als er sie 1832 besuchte, als „gänzlich steriles Land“ beschrieben. Tatsächlich ist kaum Grünes auszumachen. Dafür sind die Silouhetten der gezackten Bergipfel, die sich später dunkel gegen den rötlichen Abendhimmel abheben werden, umso dramatischer.

Ich bin angekommen, habe buchstäblich meinen Horizont erweitert. Ein wenig stolz bin ich schon.

Kategorie: Bijagos, Unterwegs-Blog

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Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

4 Kommentare

  1. Hey Rony
    Wie immer schön und interessant Dein neuer Reisebericht zu lesen, Danke. Hier bei uns verabschiedet sich der Herbst jetzt langsam mit stürmischen Winden aus Westen und es wird kälter.
    Wir wünschen Dir weiterhin eine gute Reise mit gutem Wetter und vielen spannenden Erlebnissen. Wir freuen uns wieder von Dir zu hören. Liebe Grüsse Irene und Roland

  2. Thomas SV Carmina sagt

    Dass Du segeln kannst hast bewiesen. Dass Du über ein feinfühliges, ausdruckstarkes Schreiben verfügst, beweist auch dieser Artikel wieder eindrücklich. Toll, Kompliment und Du erklärst Menschen, die nicht als Single-Hand-Sailors unterwegs sind, diesen besonderen Reiz.

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