Unterwegs-Blog
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Unterwegs zu den Azoren – und in ein neues Leben

Sonnenuntergang über dem Atlantik

Der Atlantik wirft Welle um Welle gegen das Boot. Manchmal krachen sie gegen den Rumpf und der Knall ist laut wie ein Schuss in nächster Nähe. Oder sie fluten das Deck und ich höre das Wasser rauschen und durch die Lenzluken ablaufen. Das Boot knarrt und ächzt unter der Last der See und des Windes. Ich bin in seinem Bauch und die Geräusche umgeben mich, als sässe ich in einem riesigen Resonanzkörper.

Ich liege auf der Bank an steuerbord. Das Leesegel, eine starke Stoffplane, die man an der Seite der Koje befestigen und an die Decke hochbinden kann, verhindert, dass ich mit dem Überholen des Bootes auf den Salonboden knalle oder gar auf die andere Seite katapultiert werde. Es ist die zweite Nacht meiner Überfahrt von Madeira nach Santa Maria, einer der neun Azoren-Inseln. Zwei oder drei Tage wird die Reise noch dauern.

Ich bin etwas spät dran. Es ist bereits Mitte August und alle nautischen Reiseführer empfehlen, dass man spätestens Ende August die Azoren wieder verlassen sollte. Aber dieses Jahr ist eben ein merkwürdiges Jahr. Die Corona-Pandemie hat meine Pläne und wohl die vieler Segler durchkreuzt. Natürlich nimmt das Meer darauf keine Rücksicht. Ohnehin scheint es aber eine Gesetzmässigkeit des Segelns zu sein, dass man trotz sorgfältigster Planung und Umsicht nicht selten zur falschen Zeit am falschen Ort ist.

Geplant war, bereits im März die Schweiz zu verlassen und von der Algarve, wo Blue Alligator den Winter verbracht hatte, Richtung Madeira aufzubrechen und anschliessend, das heisst noch im Juni oder Juli, die Azoren zu erkunden. Am Ende konnte ich erst Ende Juni aufbrechen und bis alles soweit war, bis ich lossegeln konnte, dämmerte der Juli bereits seinem Ende entgegen.

Doch die Verspätung ist auch ein wenig relativ, denn so rasch werde ich nicht in die Schweiz zurückkehren. Meinen Job habe ich gekündigt, die grosse Wohnung in Zürich ist geräumt. Blue Alligator soll für unbestimmte Zeit meine Behausung sein: mein Bett, mein Tisch, mein Büro. Und natürlich mein Reiseuntersatz, der mich möglichst weit bringen soll, so weit, wie die Pandemie, das Meer und meine seglerischen Fähigkeiten mich eben bringen können.

Madeira im Kielwasser

Madeira liegt immerhin schon hinter mir. Die Strecke von fast 500 Seemeilen von der Algarve auf die Insel war die bislang längste, die ich bis dahin an einem Stück gesegelt bin. Ich war glücklicherweise nicht allein an Bord; Aline, meine Stieftochter hat mich begleitet. Gerade freundlich war der Atlantik aber auch auf dieser Strecke nicht zu uns. Es blies kräftig und die See ging hoch, deutlich höher, als uns der Wetterbericht vorausgesagt hatte.

Wir bewegten uns wie Kletteraffen durch das Schiff, hangelten uns von Handgriff zu Handgriff, damit wir nicht umher geschleudert wurden. Am besten lag man in der Koje. Aber das kann man natürlich nicht die ganze Zeit tun. Die grösste Kunst bestand darin, den Herd einzufeuern und etwas zu kochen. Blue Alligators Herd schwankt bei Seegang hin und her. So ist es auch gedacht. Allein, sind die Pfannen nicht festgeklammert, kann man ihren Inhalt vom Boden oder der Wand abkratzen. Und war das Essen endlich bereit, so musste das noch in die Teller gelangen und von da in die Mägen, reichlich Gelegenheiten, einiges zu verschütten.

Aber wir sind nicht verhungert, und Madeira hat uns für alles Ungemach reichlich entschädigt. Fast drei Wochen lag ich am Ende in Funchal, der eleganten Inselhauptstadt, die abends als Lichterteppich den steilen Berghang erleuchtet, den die Stadt überwuchert. Die lange Liegezeit war auch ein wenig der Arbeit geschuldet, die ich mitgenommen habe, um nicht ausschliesslich von meinen Ersparnissen leben zu müssen. Am 12. August habe ich aber Madeira mit Kurs auf die Azoren verlassen. Nochmals rund 450 Seemeilen lagen vor mir. Diesmal war ich allein an Bord.

Als ich die Landabdeckung im Südwesten der Insel verliess, schoss der Wind auf 20 Knoten hoch. Die See war mit weissen Schaumkronen geziert und Blue Alligator verwandelte sich wieder in ein Rodeo-Pferd. Zum Glück wurde es bald ruhiger. Doch auch das ist relativ.

In Augenblicken wie diesen, in der Nacht und im Tumult, der mich umgibt, fühle ich die Einsamkeit auf einem Meer, auf dem Menschen nun einmal fremde sind. Ich habe aber keine Angst. Der Schrecken, wenn eine Welle das Boot trifft, es erschüttert und einen Moment aus seiner Bahn wirft, ist etwas anderes. Er vergeht im Bruchteil von Sekunden. Ich vertraue dem Schiff, das immer wieder auf seinen Kurs zurückfindet und der See die Stirn bietet, buchstäblich.

Die Schönheit des Ozeans

Und der Ozean hält viel Schönheit bereit: das silberne Funkeln, das kleine Meeresbewohnern erzeugen und das die Heckwelle in einen glänzenden Schweif verwandelt, die Sterne, wie man sie an Land kaum mehr irgendwo zu sehen bekommt, von Horizont zu Horizont, und der Mond, der in diesen Tagen als schmale Sichel in den Morgenstunden aufgeht, ein sanftes Licht über uns wirft und der See wieder eine Kontur gibt. Atemberaubend war vor ein paar Stunden nicht allein der Sonnenuntergang, sondern auch die Farben und Formen der Wolkenbänke, die über dem Horizont standen, blau, rosa, weiss und violett.

Trotzdem: Warum segle ich eigentlich, hier, jetzt, allein? Weil es sich richtig anfühlt. Ich bin am Leben und muss auch etwas tun, damit ich es bleibe. Das heisst, ich muss zumindest meinem Boot ermöglichen, mich sicher übers Meer zu bringen, muss die Segel stellen, reffen, wenn es Zeit ist, und darauf achten, dass der Kurs stimmt. Und ich sollte nicht von Bord fallen oder mir bei einem der Bocksprünge etwas brechen oder von einem Frachter gerammt werden. Es gibt viel zu tun.

Am Ende werde ich ankommen. Ich werde zunächst nur die schwache Kontur der Insel sehen, auf der ich noch nie zuvor gewesen bin, und die der südöstlichste Zipfel des Archipels darstellt, dessen Name für mich nach weit, weit weg klingt. Ein Archipel, wo Segler anlegen, die den ganzen Atlantik überquert haben. Je näher ich der Insel kommen werde, desto deutlicher wird sie sich aus dem Dunst abzeichnen, bis endlich, und ich bin dann schon ganz nah, die Farben hervortreten, grün und das Schwarz des Vulkangesteins, aus dem sie geformt ist. Dieses langsame Ankommen gibt mir Zeit zu begreifen.

Vor allem aber werde ich es aus eigener Kraft geschafft haben. Und die See wird mich wieder Neues gelehrt haben: über meine eigenen Grenzen zum Beispiel oder welche Menschen mir tatsächlich wichtig sind. Vielleicht komme ich sogar dem Geheimnis etwas näher, was ich mit meinem Leben noch anfangen sollte. Das ist das bisschen Schaukeln, das ich in meiner Koje erdulde, wohl wert.

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Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

7 Kommentare

  1. Pingback: Santa Maria: Meine erste Azoren-Insel – Meergeschichten

  2. Hansueli Müller sagt

    Grüezi Herr Schenkel
    habe in der NZZ Ihren Artikel gelesen. Dabei ist mir Ihr Name aufgefallen. Hier habe ich gelesen, dass Sie am Zugersee aufgewachsen sind. Haben Sie die KSZ besucht? Falls ja, bei wem hatten Sie Mathematik? Eine Antwort würde mich freuen. Danke.
    Gruss
    muha

    • Ronald sagt

      Lieber Herr Müller, Mathematik hatte ich bei Ihnen. Ich habe durchaus gute Erinnerungen, vor allem an den Wettbewerb um Schallplatten, den sie gelegentlich durchgeführt haben. Herzlich Ronald Schenkel

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