Unterwegs-Blog
Schreibe einen Kommentar

Eines Seglers Reise durch die Nacht

Pico von Bord aus gesehen

Santa Maria, São Miguel, Pico, Faial, São Jorge und wieder zurück nach São Miguel und Santa Maria. In etwas über einem Monat habe ich immerhin fünf der neun Azoreninseln besucht. Keine ist gleich. Jede hat ihre Besonderheiten. Manchmal muss man sie suchen. Manchmal werden sie einem gleich im Hafen präsentiert – oder man fährt buchstäblich darauf zu, etwa wenn man Pico anläuft.

Ich habe Pico von São Miguel aus angesteuert. Die beiden Inseln liegen rund 140 Seemeilen auseinander. Für eine solche Strecke braucht Blue Alligator mindestens 24 Stunden. Mit anderen Worten: Eine Nachtfahrt ist unvermeidlich.

Wie ein Affe im Urwald

Am 31. August bin ich um 13 Uhr 45 in Ponta Delgada ausgelaufen. Es sollte eine flotte Fahrt werden, jedoch mit üblem Seegang. Ich hatte bereits erfahren, dass sich die See hier oft mit steilen, kurzen Wellen gegen das Boot wirft. Aber Wissen hilft nicht; es ist jedes Mal aufs Neue eine unangenehme Sache. An Kochen ist kaum zu denken, und ich hangle mich durchs Boot wie ein Affe durch den Urwald, immer eine Hand irgendwo an einem Griff.

In solchen Situationen bin ich dankbar, dass Blue Alli in der Breite lediglich etwas über drei Meter misst. Ein breites Schiff ist zwar im Hafen wunderbar, ein Katamaran beispielsweise, auf dem es sich wie auf einem schwimmenden Häuschen leben lässt. Dafür kann man sich aber nicht in jeder Sekunde festhalten, und wer torkelnden Schrittes auf ungesicherter Bahn von einer Welle erwischt wird, kann sich blaue Flecken und Schlimmeres holen.

Wie in einer Wiege

Dennoch ist auf Blue Alligator bei solchen Fahrten die Koje der angenehmste Aufenthaltsort. Ich schlafe in der Regel im Salon auf der Steuerbordbank, also rechts im Schiff. Ich habe seitlich ein sogenanntes Leesegel aufgespannt, eine Stoffplane, die verhindert, dass ich aus der Koje geschleudert werde. Ich fühle mich dann wie in einer Wiege, behaglich und sicher.

Aber auch in der Nacht – oder vor allem in der Nacht – gilt es, Ausschau zu halten. Technische Hilfsmittel wie Radar oder AIS – das Automatic Identification System – sollten mich frühzeitig vor unliebsamen Begegnungen mit anderen Schiffen warnen. Aber man weiss nie. Und dampft ein Frachter auf mich zu, ist es gut, an Deck zu sein und im Notfall zu reagieren. Das bedeutet zwar nicht, dass ich ihm in jedem Fall ausweichen muss. Aber sich per Funk zu vergewissern, dass man ebenfalls gesehen worden ist, lohnt sich. Zudem kommt man zu einem kurzen Schwatz mit einem Unbekannten, der vom Hochsitz seiner Brücke aus mein tanzendes Toplicht sieht. Unterschiedlicher könnte man auf dem Meer kaum unterwegs sein; er auf seiner geräumigen Brücke, wahrscheinlich in einem bequemen Sessel sitzend, eine Tasse mit dampfendem Kaffee in der Hand, ich auf meinem schaukelnden und hüpfenden Boot. Und doch teilen wir für eine kurze Weile dieselbe Welt.

Diese Nacht verläuft zumindest verkehrstechnisch ruhig. Ein paar Mal muss ich die Windsteueranlage, die das Schiff auf Kurs hält, korrigieren und die Segelfläche verkleinern. Nichts Dramatisches. Aber es bedeutet, aufstehen, die Taschenlampe suchen, an Deck steigen.

Der Lichtzauber

Das Boot zieht durch die schwarze See. Doch im Kielwasser glitzern Plankton oder kleine Kalmare, als würden beständig winzige Diamanten neben dem Boot ausgeschüttet. Einen dieser Leuchtgeschöpfe hatte es auf der Überfahrt nach Madeira an Bord gespült; ein kleiner Tintenfisch, dessen Kopf fast gänzlich aus zwei riesigen, blauen Augen bestand und unter dessen wächserner Haut die dunklen Bahnen der Tinte geschimmert hatten. Wahrscheinlich sind es seine Artgenossen, die aus der Tiefe aufgestiegen sind – Beute jagend sind sie bestimmt auch selber Beute. Ich sehe nicht, was sich abspielt neben meiner Bordwand. Mir bleibt der Zauber des Lichtspiels.

Der Himmel ist teilweise bedeckt. Aber zwischen den Wolkenbänken leuchten die Sterne wie das Gegengleich zum Glitzern im Wasser. Das Meer und der Himmel, sie spiegeln sich – auch in ihrer scheinbaren Unendlichkeit und Tiefe; und ich bewege mich mit meinem Boot eher wie ein Raumschiff durch den Kosmos, als wie ein Erdenfahrzeug auf dem Weg von einer Insel zur nächsten.

Der Vulkan

Kurz vor der Dämmerung lege ich mich noch einmal in die Koje. Eine Stunde später erwache ich und steige den Niedergang hoch ins Cockpit. Die Sonne steht knapp über dem Horizont im Osten und ihr Licht bescheint die Spitze des riesigen Kegels von Pico mit sanften Rosatönen. Pico ist ein Bilderbuchvulkan, perfekt geformt wie von der Hand eines Töpfers. Mit seinen 2351 Metern ist er der höchste Berg Portugals. Und er hat auch der Insel, deren flacherer Teil sich wie der bucklige Rücken eines Wals aus dem Wasser erhebt, den Namen gegeben.

Auf seinem etwas abgeflachten Haupt trägt Pico ein keckes Hütchen, einen kleinen Kegel, der das erste Licht des Morgens empfängt. Über der Basis schwebt noch ein Wolkenschleier, transparent wie Gaze, als ob der Berg eben sein Nachthemd ablegen wollte. Mir stockt der Atem. Ich denke unvermittelt: Das muss das Paradies sein. Oder ich bin aus der Zeit gefallen, in eine andere Epoche geraten: in die Urzeit? Ich hätte mich nicht gewundert, wenn über mir plötzlich Flugsaurier aufgetaucht wären oder sich etwas Urtümliches aus dem Meer erhoben hätte.

Ich steuere den Ort Lajes do Pico an, kann aber nur einen Tag bleiben. Doch werde ich den Vulkan noch lange sehen – von Horta auf Faial oder von São Jorge aus, den beiden Nachbarinseln. Manchmal verbirgt sich Pico hinter dicken Wolken. Dass er dennoch da ist, spüre ich wie die Gegenwart einer starken Persönlichkeit.

Ein anderer Segler wird mich später fragen, was das Schönste auf meiner Reise durch die Inselwelt der Azoren gewesen sei. Ich kann nur sagen, dass der Anblick des Vulkans an diesem Morgen des 1. Septembers 2020 zu den schönsten und auch erhabensten gehört, die ich je auf See erlebt habe.

Kategorie: Unterwegs-Blog

von

Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.