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Über geplatzte Träume, Verschwörungstheorien und ein paar zentrale Fragen

Blue Alligator läuft aus Garachico aus

Es war 20 Uhr 20, als die Nachricht auf meinem Handydisplay erschien. «Wir brauchen die Koordinaten der Marina auf El Hierro.» – «Autopilot ist ausgefallen.» – «Das Vorsegel blockiert.» Die Nachricht kam von Freunden, die an diesem Tag, es war der 14. Dezember 2022, aus Santa Cruz de La Palma auf den Kanarischen Inseln ausgelaufen waren. Ihr Ziel: Grenada auf der anderen Seite des Atlantiks.

Sturm anstatt leichte Winde

Der Wetterbericht hatte leichte Winde aus Nordost vorhergesagt. Nun sahen sie sich mit 35 bis 40 Knoten, das sind fast 65 Kilometer pro Stunde, konfrontiert. Der Wind kam auch nicht von Nordosten, sondern drehte ständig und die See wurde von Mal zu Mal übler, kurze, steile Wellen, die das Boot tanzen liessen. «Als stünden Leute um einen Eimer mit Wasser herum und würden mit Kellen dagegen schlagen», beschrieb mein Freund das Chaos, in dem er und seine Partnerin sich befunden hatten.

Das Boot: Eine knapp zehn Meter lange Yacht, die durchaus seetüchtig ist. Aber wenn mehr als ein System an Bord versagt, wird es auch auf einem guten Schiff unangenehm. Die grösste Sorge bereitete den beiden das eingeklemmte Vorsegel. Lässt es sich nicht reffen oder bergen, ist das Schiff bei Starkwind übertakelt, das Steuern wird zum Kraftakt und ein Bruch im Rigg ist nicht auszuschliessen. Lässt man es einfach flattern, hat der Wind leichtes Spiel und reisst das Segel in Fetzen. Bei hohem Seegang aufs Deck zu gehen, um das Problem zu lösen – wenn es sich denn lösen lässt –, ist nicht nur anstrengend, sondern auch gefährlich.

Die Crew

Meine Freunde: Er ist Schweizer, in Lateinamerika aufgewachsen. Er segelt seit seiner Jugend und hat weit längere Strecken als die vor ihm liegende auf dem Pazifik zurückgelegt. Sie ist Kolumbianerin und eine Segelnovizin. Aber sie war guter Dinge, als wir in La Palma über den Törn sprachen, und hatte vor allem grenzenloses Vertrauen in ihren Partner.

Die Tage und Wochen im Dezember 2022 waren geprägt von südlichen Winden und einer See, die von den riesigen Tiefdruckgebieten beeinflusst war, die über den Nordatlantik zogen. Viele Segler auf den Kanaren warteten auf den Nordwind, der sie nach Süden und in den Passatgürtel tragen sollte. Er wollte und wollte nicht kommen. Und kaum hatte er eingesetzt, brauste auch schon eine neue Störung heran und veränderte die Lage erneut.

«Neues» Wetter

«So einen Dezember hatten wir noch nie», sagte mir ein Tauchinstruktor auf La Palma. Diesen Satz höre ich inzwischen ständig. Auf den Azoren hiess es letzten Winter schon: «So ein Jahr hatten wir noch nie.» Man wird sich wohl an diese Art von Premieren gewöhnen müssen.

Der Lateinamerika-Schweizer spricht von der Klimaveränderung; von einem sich abschwächenden Golfstrom, heftigeren Stürmen und schlicht unpräziseren Wettervorhersagen, weil die Modelle auf Erfahrungen der Vergangenheit basieren. Er, der wesentlich mehr Meilen gesegelt ist, als ich es je tun werde, ist verunsichert. Die Atlantiküberquerung hat er gestrichen.

Die Verschwörungstheoretiker

Trotzdem legten im Dezember Hunderte von Yachten ab, um die Karibik zu erreichen. Darunter war auch ein kleiner Katamaran von knapp neun Metern Länge. Die Crew bestand aus einem Engländer und seiner Frau aus Singapur sowie zwei jungen Franzosen. Wir waren Stegnachbarn auf La Palma und ich wurde von den beiden Eignern des Katamarans, kaum hatte ich festgemacht, zum Abendessen eingeladen. Es war ein freundlicher und fröhlicher Abend, bis das Gespräch auf Corona, Impfungen und das Klima fiel.

Die Pandemie sei herbeigeredet, die Impfungen nichts anderes als eine globale Manipulationskampagne und der Klimawandel schlicht ein Medienschwindel, sagten sie in voller Überzeugung. Als sie mich fragten, ob ich auch von der klandestinen Weltregierung wisse, die alle Fäden zöge, war für mich der Zeitpunkt zum Aufbruch gekommen.

Aber natürlich sieht man sich wieder, wenn man am selben Steg liegt, und als ich am kommenden Tag an ihrem Boot vorbei ging, kam mir die Frau entgegen. Sie lächelte mich an, umarmte mich und wünschte mir für meine kommende Reise alles Gute. Dann hiess sie mich kurz warten, stieg aufs Boot und kehrte mit einem Buch zurück. «The World in Bullshit» von einem gewissen Will Rowlings über die angebliche Klimawandel-Hysterie, ökonomische Vernichtung und die Auslöschung der Gesundheit. Ich solle das lesen, es sei alles belegt, sagte sie mir und lächelte noch strahlender.

Was um uns herum geschieht

Die beiden wollten nach Brasilien, um dort eine Farm aufzubauen. «Alternative Landwirtschaft», sagten sie. Inzwischen weiss ich nicht, ob wir darunter dasselbe verstehen. Im übrigen sind auch der Engländer und seine Partnerin erfahrene Segler, die wohl wissen, was sie tun. Warum sehen sie nicht, was sich vor ihren Augen abspielt: die Veränderungen, die die Ozeane durchlaufen, die steigenden Temperaturen und abnehmenden Strömungen, die sich wandelnde Fauna und Flora, die zunehmende Stärke der Stürme?

Aber warum sollte die seefahrende Gesellschaft anders zusammengesetzt sein als der Rest der Menschheit. Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker gibt es ganz offensichtlich auch hier. Es soll sogar Segler geben, die der Flat-Earth-Theorie anhängen. Ich habe noch keinen getroffen, aber von solchen gelesen. 2020 soll ein italienisches Paar aufgebrochen sein, um das Ende der Welt zu erreichen. Dieses, so glaubten sie, befände sich bei Lampedusa. Die Expedition scheiterte allerdings an den Küsten der Insel Ustica. Bei ihrer Navigation stützten sie sich ironischerweise auf einen klassischen Kompass, der bekanntlich nach dem magnetischen Nordpol ausgerichtet ist; etwas, das es in der Vorstellung der Flat-Earthener gar nicht geben dürfte.

Meine Freunde haben es schliesslich geschafft, einen Hafen auf El Hierro anzulaufen. Ich hatte ihnen die Position und den Kurs geschickt, den sie zu steuern hatten. Ich hatte auch angeboten, die Seerettung zu alarmieren. Aber das wollten sie nicht. «Das wohl Wichtigste in einer solchen Lage ist zu wissen, dass da noch jemand ist und man nicht völlig alleine ist», sagte mein Freund später.

Doch nicht über den Atlantik

Auch ich habe die Antlantiküberquerung abgesagt. Ich werde noch ein paar Wochen auf den Kanarischen Inseln verbleiben, bis sich ein Wetterfenster öffnet, um nach Madeira und später nach Santa Maria zurückzukehren. Ich habe zwar keinen Sturm erlebt, der mich erschüttert hätte. Aber just das Gefühl, allein zu sein auf See, wochenlang, stellte sich als eine Hürde heraus, die ich zu nehmen nicht im Stande bin.

Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass diese Erkenntnis nicht das Resultat eines rationalen Reifeprozess war, sondern sich vielmehr als ein Gefühl manifestierte, das am Tag des geplanten Aufbruchs in einer regelrechten Panikattacke mündete. Ich hatte es wohl zu lange verdrängt, obgleich, wenn ich ehrlich bin, es sich auf jeder Solopassage eingestellt hatte. Nach vier Tagen und Nächten allein auf See war ich stets froh, wieder irgendwo anzulegen und mit Menschen zu sprechen.

Anstatt nach Süden Richtung Kapverden drehte ich also den Bug von Blue Alligator zurück nach Norden – und ich war erleichtert.

In der Zwischenzeit plagten mich natürlich Zweifel an meiner Entscheidung und ich fühlte mich als Versager, ja gar als Feigling. Aber wenn ich in mich hineinhöre, weiss ich, dass die Umkehr das Richtige war. Nicht jeder ist zum Langzeit-Solosegler geboren. Ich bin es offensichtlich nicht.

Trennungsschmerz

Kürzlich habe ich in einem Beitrag eines Single-Handers auch gelesen, man solle, segle man alleine, keinen Kontakt zu den Zurückgebliebenen aufrechterhalten. Das Gefühl der Einsamkeit würde sonst nur noch stärker anwachsen. Vielleicht bin ich auf meinen Solofahrten just diesem Fehler erlegen. Aber konnte ich anders? Ich habe auf See tatsächlich stärker gespürt als sonstwo, was ich vermisse, woran mein Herz hängt. Und auch das ist ein Grund, so rasch es die Winde erlauben, nach Santa Maria zurückzukehren und, anstatt sechs oder sieben Monate der Trennung von meiner Liebe, diese auf vier Monate zu reduzieren.

Könnte es sein, dass Trennungsschmerz, den man zu lange erträgt, ausleiert wie eine überspannte Gummischnur? Aus dem Trennungsschmerz wird dann vielleicht eine Art Verlust, ein Zustand, den man irgendeinmal hinnimmt. Dann ist es allerdings zu spät für eine Rückkehr. Ich will es nicht so weit kommen lassen.

Der Atlantik hat mir mit ziemlich brutaler Offenheit ein paar Fragen gestellt. Die zentralste war sicherlich, warum ich mich ihm für Tausende von Meilen stellen wollte. Vielleicht gibt es irgendwann einmal Antwort, die der Dimension des Ozeans standhält. Jetzt fehlt sie ganz einfach und das Herz drängt zurück nach Santa Maria.

Aber davon trennen mich immerhin auch noch gut 700 Seemeilen.

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Ich bin 1964 in Zürich geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens als Journalist gearbeitet. Seit Sommer 2020 bin ich auf meiner Yacht Blue Alligator auf dem Atlantik unterwegs.

14 Kommentare

  1. Ja Ronald, Du hast „goldrichtig“ entschieden.
    Wenn man diese Wettersituation kritisch beurteilt, kann man gar nicht anders entscheiden. Und wenn ich an die hunderte waghalsigen Segler denke, mit ihren Schiffen, die mit geschäumten Rudern, mit bestenfalls küstentauglichen Rollgenau-Anlagen denke, dann wir mir beinahe übel. Haltemöglichkeiten sind weder in den überbreiten Cockpits (dafür haben sie nun zwei Räder zum steuern, sieht geil aus) noch im Inneren des Schiffes ausreichend vorhanden. So ist es eben im Leben. Aber auf See, im Atlantik verzeihen die Urkräfte eben dem beschränkten menschlichen Verstand nicht immer alles. Und die wollen alle „auf der Barfussroute“ rüber. Warum? Wozu?
    Willkommen zu Hause auf den Azoren und frohe Festtage und ein glückliches neues Jahr. Grüsse aus Sao Miguel.

  2. Herry sagt

    Lieber Rony,

    das ist weder Versagen, noch Feigheit … sondern sehr mutig und richtig! Ich freue mich, Dich dann bald wiederzusehen.

    Liebe Grüße

    Herry

  3. Ciao Rony e grazie per aver condiviso con noi questa tua esperienza…che fa di te un vero marinaio!

    Ti facciamo tanti cari auguri di „boas festas“…e anche „buon vento“

    Un grande abbraccio a te e a Katrin

    Lilly & Tonino – s/y Magic

    • Grazie per le sue parole. Mi rendono molto felice, soprattutto perché provengono da marinai esperti. Vi auguro il meglio e spero di rivedervi presto alle Azzorre.

  4. Jürg oschwald sagt

    Lieber Ronny,
    Bin ich froh das Du nicht gefahren bist.
    Weiss nicht ob Du mein Buch gelesen hast? Ich bin dazumal mit Ruth an Bord mit meinen kleinen nicht Hochsee tauglichen Boot im Mittelmeer im Sturm gefahren, fast gekentert.
    Das Leben ist zu schön für solche unkalkuliebaren Risiken.
    Die wahren Helden wissen wann man umkehren muss.
    Frohe Weihnachten 🎄 und einen guten Rutsch ins neue Jahr
    Jürg

    • Lieber Jürg, das wusste ich nicht. Gut, habt ihr es überstanden. Danke für deine Wünsche, die ich von Herzen erwidere. Herzlich,Rony

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